33. Das Deutsche Reich im Zeitalter der Weltmächte.
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trennten die Volkskreise und stellten die ideale Einheit in Frage: Kultur¬
kampf und Sozialistengesetz sind gar schmerzliche nationale Erinnerungen.
Wirtschaftliche Interessen scheiden in harten Kämpfen Landwirtschaft, In¬
dustrie und Handel, Unternehmer und Arbeiter; scharf wird gestritten um
Zoll-, Handels- und Börsenpolitik. Nicht immer wird der Streit sachlich 5
und leidenschaftslos geführt: oft wird über dem Trennenden das Einigende
vergessen. Leicht beieinander wohnen auch in dem nationalen Leben die
Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. So braucht ein
Volk gleichsam ein nationales Gewissen, um auf dieser Fahrt das große
gemeinsame Ziel nicht zu verlieren; ältere Völker wie die Engländer und 10
die Franzosen haben ein solches Volksgewissen, wir müssen es erst erwerben.
Im Gefolge des politischen und wirtschaftlichen Aufschwungs steigt der Reich¬
tum und die allgemeine Lebenshaltung, aber in unlöslicher Verbindung damit
auch die Neigung zu einseitig materieller Lebensauffassung und die Gefahr
der Unterwerfung unter die ausschlaggebende Herrschaft des Geldes. Nationale 15
Größe aber ergibt sich nur aus einer organischen Verbindung der materiellen
und der geistigen Kräfte, aus dem Gleichgewichte zwischen Volkskörper und
Volksseele. Jede einseitige Übertreibung führt zur Krankheit. Unsre Vor¬
väter haben im Sonnenglanze eines hochgesteigerten geistigen Aufschwungs
die Bedeutung der nationalen und der darauf begründeten wirtschaftlichen 20
Lebensbedingungen übersehen; wir dagegen laufen Gefahr, in deren aus¬
schließlicher Pflege die geistigen Interessen zu unterschätzen. Die Aufgabe
der Enkel ist es, im politischen Wesen die beiden Richtungen zu verbinden,
d. h. jenen festen, wahrhaft nationalen Patriotismus zu gewinnen, der das
Parteiwesen belebt und erträgt, aber doch hoch darüber steht, der in der 25
Weite des Weltbürgertums nicht aufgeht, aber sich auch in der Enge des
rein materiellen und lokalen Strebens nicht verliert.
Patriotismus, Vaterlandsliebe, welch herrliches Wort, und doch wie
vielen Mißverständnissen und Mißbräuchen ausgesetzt! Wie oft fühlt sich
der als der beste Patriot, der fremde Art nicht kennt und blind verachtet, 30
und dem doch eben darum der richtige Maßstab für die Einschätzung des
eigenen Vaterlandes fehlt! Wie hoch stellt sich selbst in der eigenen Meinung
jener andre, der patriotische Reden im Munde führt, aber jeder opferwilligen
Einsetzung seiner Person oder seiner Interessen fürs Ganze sorglich aus¬
weicht! Der wahre Patriotismus offenbart sich im Verständnis für gemein-35
same Art und Sitte und in der daraus hervorgehenden tiefen, werktätigen
Liebe zum Vaterlande, die in der Liebe zur Familie, zu Haus und Hos, zu
Freund und Stamm ihre Vorbilder im kleinen findet. Seine Stätte ist nur