69. Tempel und Kathedrale.
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armen Zimmern, Hütten und Löchern wohnen viele Menschen eng zusammen;
und doch bringen sie willig viele Opfer, damit der Ewige hoch und weit
throne. Ich ging einmal durch ein italienisches Dorf, wo nichts als Schmutz,
Elend, dunkles Gemäuer und schiefe Lehmwände zu finden waren; aber in
der Mitte des Platzes stand feierlich, stolz die große Kathedrale mit goldenen
Mosaiken und bronzenen Türen, mit Marmorfußboden und schwerem Brokat¬
behang. Willig ertrug dies Dorf seine Wochenarmut, um Sonntags zum
Reichtum seines Gottes zu pilgern. Wie stark ist doch der Zug des Herzens
zur Höhe, daß es gern hungert und friert, um sich solche Gewißheit zu sichern!
Vielleicht ist gerade das Opfer das Geheimnis dabei. In jedem Fall: die
Häuser des Gottes sind hoch und schön; und was mit soviel Anstrengung
vollendet ist, das muß sein besonderes Mysterium bergen. Den Geist im
Säulenhaus wollen wir suchen.
2.
Europa hat in den 3000 Jahren, die wir von seiner Geschichte über¬
sehen, zwei Baustile hervorgebracht, einen südlichen und einen nördlichen,
einen, der für das Mittelmeer, einen, der für die Länder diesseits der Alpen
paßt. Jenen haben die Griechen in ihrem Säulenbau, diesen die „Goten",
d. h. Franzosen und Deutsche, in ihrer gotischen Kathedrale entwickelt. Es
gibt nur diese beiden Stile; alles andre ist Mischung und Repetition. Die
Renaissance repetierte die Antike, der Empire repetierte die Repetition der
Antike. Enkel huldigten hier den Ahnen und waren beglückt und auch wohl
schöpferisch. Aber einen neuen Stil hat der Norden nur einmal geprägt;
er ist in der Gegend entstanden, wo auch die Scholastik sich entfaltete, bei der
Sorbonne. Da saßen die Männer, die klug und reif genug waren, um etwas
Eigenes zu wollen. Die Franzosen haben, wie so oft, das Prinzipielle ge¬
funden; die Deutschen nahmen die Sache auf und brachten sie zur vollen
Entfaltung, zum Blühen. Wie Parzival und Tristan französische Epen sind,
die aber erst in Süddeutschland sich mit Ewigkeitsgehalt füllten, so ist die
Gotik eine Erfindung französischer Dialektiker, aber ein Pflegekind deutscher
Mystik und Versonnenheit.
Der romanische Stil ist kein reiner Stil, sondern Mischung und Willkür.
Er wächst aus den antiken Traditionen hervor, möchte aber mit alten Formeln
neue Werte sagen. So entstehen prächtige Dome an den Fluten des Rheins
und auf den Höhen des Harzes, aber ihr Stil ist ein Tasten, es fehlt die
innere Notwendigkeit. Die dorische Säule und das gotische Pfeilerbündel
— das sind die beiden stärksten Gegensätze, die die Baukultur aller Tage bis
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