71. Dürers Reiter und Melancholie.
367
Dürer mit einem Fleiß, wie er ihn noch auf keine Platte verwendet hatte,
jenen berühmten Stich, den er einfach „den Reiter" nannte. Der gewiß
unter dem Eindruck der leidenden zweiundfechzigjährigen Mutter etwa ebenso
alt gemachte Reiter hat den Tod und den Teufel zu Begleitern, wie die von
Angst und Skrupeln gequälte fromme alte Frau, wie aber auch ihr ernster
Sohn selbst, und wie sie Erasmus von Rotterdam damals als Bedroher eines
christlichen Ritters bezeichnete. Wichtige Beigaben sind der treue Hund, der
Schädel, der Salamander, der einst als Symbol einer reinen Seele galt,
die kräftigenden Eichenlaubbüschel an dem Pferde, die seienden Bärlappranken
am Helme des Ritters und das im Laubschmuck seiner Umgebung prangende
himmlische Jerusalem in Gestalt der Burgheimat des Ritters; im Spätherbst
des Vordergrundlebens gibt es kein Laub mehr. Der Teufel wird diesen
Reiter nicht fällen, und der Tod, ein König nur des fleischlichen Lebens,
dessen bimmelnder realistischer Klepper unheimlich Tritt hält mit dem ideali¬
sierten starken Streitroß, an das er ja auch festgebunden ist, nicht über ihn
siegen. Nehmt eure Zügel fest in die Hand und faßt den Weg vor euch scharf
ins Auge, wie dieser Alte auf seinem Abendritt, so reitet ihr getrost wie er!
In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1514, so hat Dürer in seinem
Hausgedenkbuch aufgezeichnet, „ist mein frumme Mutter Barbara Dürerin
verschieden christlich mit allen Sacramenten, aus päpstlichem Gewalt von
Pein und Schuld geabsolvieret. Sie hat mir och vor ihren Segen geben
und den göttlichen Fried gewünscht mit viel schöner Lehr, auf daß ich mich
vor Sünden sollt hüten. Und sie forcht den Tod hart, aber sie saget, für
Gott zu kummen fürchtet sie sich nit. Sie ist auch hart gestorben, und ich
merkt, daß sie etwas Grausams fach. Dann sie fordret das Weichwasser, und
hätt doch vor lang nit geredt. Also brachen ihr die Augen. Ich fach auch,
wie ihr der Tod zween groß Stöß ans Herz gab, und wie sie Mund und Augen
zutät und verschied mit Schmerzen. Ich betet vor ihr. Davon hab ich solchen
Schmerzen gehabt, daß ich's nit aussprechen kann. Gott sei ihr genädig."
Tagelang war es dunkel vor Dürers Augen; der Schlag hatte ihn
ermattet, der' Schmerz pflügte sein Inneres auf. Daß infolge zu fleißigen
Übens im Zeichnen bei einem die Melancholie überhand nehmen kann, war eine
alte Sache für ihn; so elendiglich aber war sein Gemüt noch nie niedergeworfen
worden. Das also war Trauer! Und da sing es an Vorstellung für ihn zu
werden: ein sitzendes Weib, die Arme auf den Knien und das Gesicht nieder¬
gebeugt auf die Arme, in einem großen Tuch: der sich verhüllende Schmerz.
Und ein Blick fällt auf seine Frau, die hereintritt, den Gürtel um die starke
Taille mit vielen von dort herabführenden Falten — und mechanisch und müde
5
10
15
20
25
30
35