Full text: [Teil 9 = Klasse 1, [Schülerband]] (Teil 9 = Klasse 1, [Schülerband])

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79. wie wird der Mensch zum Erfinder? 
Ebenso tritt uns diese Kraft bei verschiedenen Völkern in verschiedener 
Weise entgegen. Im Altertum bemerkt man schon, daß die einen erfindungs¬ 
arm, die andern erfindungsreich waren, die einen vornehmlich nachahmend, 
die andern bahnbrechend, und daß dementsprechend ihre auf Erfindungen 
5 aufgebaute Kultur weite Zeitunterschiede unb eigentümliche Charakterzüge auf¬ 
weist. — Trotz allen Verkehrs, trotz allen Abschleifens und Mischens ist dies 
heute noch nicht anders. Im deutschen Geiste findet das träumerische 
Phantasieleben einen fruchtbaren Boden. Bei uns gedieh von jeher mehr 
als anderswo, ich möchte sagen, die Poesie des Erfindens. Es gelingt des- 
10 halb fast immer, die ersten Keime einer großen Erfindung bei irgendeinem 
deutschen Denker oder Träumer zu entdecken, und in alter Zeit hatten diese 
Leute noch mehr Mut als später, an die Verwirklichung ihrer Phantasien 
zu gehn. Dann kam allerdings ein Jahrhundert, in dem sich das deutsche 
Geistesleben in Sinnen und Träumen vergrub und dabei die Wirklichkeit 
15 fast vergaß. Dies ist heute glücklicherweise anders geworden. 
Anders war es von jeher bei den Franzosen, deren lebhafter und klarer, 
im wechselseitigen Austausch der Gedanken auflebender Geist stets der Wirk¬ 
lichkeit zugekehrt blieb. Wir sehen sie häufig die neuesten Ideen mit wunder¬ 
barer Schnelligkeit und Geschicklichkeit ergreifen, aber es fehlt ihnen ebenso 
20 häufig an der Ruhe, der Ausdauer, um die Früchte ihrer quecksilbernen 
Tätigkeit einzuheimsen. Sie sind heute wieder an einem andern Problem, 
ehe das von gestern Zeit hatte auszureifen. 
Was die Engländer des letzten und vorletzten Jahrhunderts in diesen 
Dingen an die erste Stelle gerückt hat, ist eben diese Ausdauer und Zähigkeit 
25 in der Verfolgung eines einmal erfaßten Gedankens. Engländer sind an sich 
nicht genialer als andre, eher das Gegenteil. Erste Ideen sind nicht ihre 
Sache. Aber die erste Idee durch alle Stadien ihrer Entwicklung durch¬ 
zufechten, das ist die Form ihrer Genialität. Die Zähigkeit des Phlegmas 
— darin lag die schaffende Kraft eines Watt, eines Arkwright, eines 
30 Stephenson. Durch diese Eigenschaft haben die Engländer gerade mit Er¬ 
findungen, die eine langsame, mühevolle Entwicklung erfordern, die Welt des 
vorigen Jahrhunderts erobert. Was uns Deutschen fehlt, wenn wir große 
Vergleiche anstellen wollen, die im Einzelfalle natürlich stets unzutreffend 
sind, ist dieses Phlegma der Kraft. Es ist falsch, von der deutschen Geduld 
35 und Ausdauer allzuviel Aufhebens zu machen. Es wäre gut, wenn wir ver¬ 
suchten, weniger ungeduldig, weniger nervös zu werden. 
Das ist nun allerdings auch der amerikanische Erfinder. Aber er hat 
vor andern jene absolute Freiheit des Geistes voraus, die ihn befähigt, auch
	        
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