9. Der Hellenismus.
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Damit steht noch ein andres in nahem Zusammenhange, nämlich daß
in den Schranken nicht gestattet war, mit roher Kraft zuzufahren oder nach
eigenen Gelüsten den Kampf zu führen. Es wurde ja niemand zugelassen,
der nicht nach hellenischem Brauche kunstmäßig seine Kraft ausgebildet hatte,
und keiner empfing den Siegerkranz, der sich nicht allen feierlich beschworenen 5
Regeln des Kampfes willig unterworfen hatte.
So haben die Hellenen durch einfache Bräuche und Satzungen den
Menschen auf des Glückes Gipfel demütig zu halten gewußt: sie haben den
Sporn des Wetteifers angewendet, um sich gegen des Fleisches Trägheit zu
schützen; aber sie haben den Eifer von allem Selbstischen zu klären gesucht, 10
sie haben den wilden Trieb des Ehrgeizes geordnet und veredelt durch die
Zucht des Gesetzes und der Religion.
Solange die Hellenen in dieser Weise um den Kranz kämpften, waren
sie ein mächtiges, ein unüberwindliches Volk; sowie ihre Schwungkraft er¬
mattete, verlor der Kranz seine Bedeutung und blieb nur als eitler Schmuck 15
in Geltung. Uns aber soll der hellenische Kranz das Symbol eines auch
für uns vorbildlichen Strebens fein. Denn nicht für sich, sondern für alle
kommenden Geschlechter haben die Hellenen den Barbaren alter und neuer
Zeit gegenüber die Wahrheit an das Licht gebracht, daß nicht das Besitzen
und Genießen, sondern das Ringen und Streben bis ans Ende des Menschen 20
Beruf und seine einzige wahre Freudenquelle ist. E.Curnus*
9. Der Hellenismus.
11 m den Sinn geschichtlich großer Gestalten zu begreifen, genügt es nicht,
^ den Verlauf ihres Tuns zu erkennen, und was sie zum Glücke der Mensch¬
heit haben fördern wollen, ist nicht der Maßstab ihrer Größe; es handelt sich 25
in der Geschichte um höhere Förderungen, um weiter greifende Beziehungen.
Auch das Ziel ihres Strebens ist nicht ein Höchstes und Letztes; wenn sie es
erreicht haben, sinkt es zum Mittel einer weiteren Entwicklung hinab.
Alexanders Heldenleben müßte als ein armseliges Stück Geschichte er¬
scheinen, wollte man es nach der Dauer des von ihm gegründeten Weltreichs 30
oder nach der Förderung, die er dem Glücke der von ihm unterworfenen
Völker gebracht hat, messen. Mit seinem Tode begannen jene Kämpfe, welche
fünfzig Jahre hindurch die Völker vom Aufgang bis zum Niedergang auf das
gräßlichste heimgesucht und sein Reich in eine Reihe von Herrschaften zer¬
splittert haben, die sich nie wieder vereinigen sollten; das unendliche Elend, 35
das die Kriege seiner Nachfolger über die Welt brachten, endete erst, als jeder
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