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vor dem Pförtchen liegt ein Kahn, den löset und fahret zum andern
Ufer. Seid ihr glücklich hinüber, so gehet eilends den jensenigen Fuß⸗
pfad nach Gießen. In Gießen treffe ich euch, so Gott will, wieder.“
Er drängte die fragende Frau vorwärts, bis sie zitternd vollführte, was
er befahl. Dann faßte er Thasso an seiner Kette mit der linken Hand,
mit der rechten aber nicht, wie sonst, die Peitsche, sondern das Schwert
und eilte auch nicht aufs Rathaus, sondern auf den Markt.
Dort sah er die Bürger bereits gewaffnet, zu Hunderten eng ge—
schart. Aber auch das Rathaus war schon dicht umzingelt von fremden
Rittern und Reisigen. Vorsichtig schlich sich Meister Richwin in die
hinteren Reihen der Bürger, die gleichfalls Gefahr geahnt hatten und
herbeigeeilt waren, um ihren Ratsherren beizustehen. Vor den Bürgern
stand Graf Johann von Solms in glänzendem Harnisch, umgeben von
zwanzig Rittern, das Reichspanier in der Hand, und verkündete, er sei
gekommen in des Kaisers Namen, um Frieden zu stiften zwischen den
weiland verjagten Geschlechtern und dem neuen zünftlerischen Rate.
Keinem werde ein Leid geschehen, am wenigsten seinen guten Freunden,
den Ratsherren drinnen im Rathause. Friedliche Sühne sei alles, was
er fordere im Namen des Kaisers. Ein neues, reicheres Gedeihen der
Stadt, eine Mehrung ihrer Vorrechte werde die Frucht dieses schönen
Tages sein. Als treuer Freund und Nachbar ersuche er darum die
Bürger, die Waffen abzulegen, welche sie voreilig für ihre Obrigkeit er—
griffen hätten; denn dieser drohe zur Stunde nicht die mindeste Gefahr.
„Zur Stunde? Ja!“ sprach Richwin zu den Nächststehenden; „aber
ob nicht in der folgenden Stunde? Behaltet die Waffen, bis die Rats—
leute wieder frei unter uns stehen!“ Doch schon sah er, daß die Vorderen,
gewonnen durch des Grafen süßes Wort, die Schwerter einsteckten und
die Spieße nach Hause trugen. Die Männer aber, zu welchen Richwin
geredet, schalten ihn, meinten, sein Platz sei doch auch vielmehr auf dem
Rathause als hier auf dem Markte, und ob er denn immer der gleiche
bissige Hund bleiben wolle, der die besten Freunde der Stadt anbelle
und die Bürger untereinander hetze.
Da Richwin solchergestalt sah, daß alles verloren sei, machte er
sich eiligst davon, gewann noch zur rechten Frist das Hinterpförtchen an
der Lahn und schwamm mit dem Hunde durch den Fluß, weil der
Nachen, welcher seine Frau gerettet, nun am andern Ufer stand. Nach
wenigen Stunden erreichte er die Seinigen und fand in Hessen eine
sichere Zuflucht; denn Landgraf Hermann war dem Grafen Johann feind
geworden nach der Schlacht bei Wetzlar wegen der eigenmächtig be—
gnadigten Gefangenen.
Ins Hessenland aber drang bald eine neue Mär aus der Reichs—
stadt. Der Graf von Solms hatte, nachdem er den Bürgern die Waffen
aus der Hand geschmeichelt, den zünftlerischen Rat in den Turm ge—