Full text: Lesestoff der sechsten Klasse (Untersekunda) (Teil 1, [Schülerband])

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Diese bestand zunächst darin, daß die Griechen alle andern 
5Völker der alten Welt an Bildung übertroffen haben. Schon 
von Natur ein regsames Volk waren sie in ein Land gesetzt, welches in dem 
Schoße seiner Gebirge fruchtbare Täler hegte, die aber dem Fleiße seiner 
Bewohner noch hinreichende Beschäftigung gaben um die Trägheit zu ver¬ 
bannen; in ein Land, das, von zahlreichen Flüssen- durchschnitten, die sich 
10 zum Teil in tiefe Meerbusen ergossen, zu einem regen Verkehr mit den 
Menschen einlud; in ein Land, in welchem die verschiedenen Völker und 
Stämme durch natürliche Grenzen getrennt und doch nicht voneinander ab¬ 
geschlossen waren; in ein Land endlich, wo ein reiner und heiterer Himmel, 
eine warme, aber elastische und nicht erschlaffende Luft die Erde umfing 
15 und in welchem die Einwohner jene Spannung und Lebendigkeit erhielten, 
die ein charakteristisches Abzeichen der Hellenen war. 
Es zeigt sich aber die höhere Kultur der Griechen, die ihnen jene Über¬ 
legenheit gab, fast in allen Gegenständen ihrer Wirksamkeit; so zunächst 
in ihrer politischen Verfassung und Gesetzgebung. Die Ver- 
20 fassung der meisten Völker ist ein Werk des Zufalls oder der Willkür und 
der Gewalt. Selten gestaltete sie sich srei nach dem Charakter des Landes 
und seiner Bewohner, meistenteils wird sie durch fremde Einmischung auf¬ 
gedrungen oder doch modifiziert. Die Verfassung der hellenischen Staaten 
aber scheint sich frei gebildet zu haben und ihre Fortschritte und Veründe- 
25rungen waren dem Maße ihrer Einsichten und ihrer Bildung angemessen. 
Verschiedene Stämme liebten verschiedene Arten der Verfassung: Griechen¬ 
lands Grenzen hegten die Monarchie, den Aristokratismus und die Demo¬ 
kratie und in verschiedenen Epochen der Bildung gingen die Hellenen von 
der patriarchalisch-hausväterlichen zu der monarchischen und von dieser zur 
30 republikanischen über. Die letztere war bei vielen unverkennbaren Nach¬ 
teilen den kleinen, abgesonderten, unendlich regsamen Völkerschaften der 
Hellenen die heilsamste und angemessenste und ganz gewiß eine der Haupt¬ 
quellen, aus denen ihre Kultur geflossen ist. Denn hier bildet fast jede Stadt 
einen eigenen Staat mit eigentümlichen Einrichtungen und die größeren 
35— in welche sich einige Eidgenossenschaften vereinigten — waren meist 
ohne Zwang und Einfluß auf die innere' Verfassung. Der regste Wetteifer 
entstand in dieser Inselwelt republikanischer Städte; wer tost in sich fühlte 
und Einsicht und starken Willen, der trat in die Laufbahn, und wenn auch 
nicht immer die Besten obsiegten, so stärkte doch schon der Kampf die .Kraft 
40 eines jeden. Daher ist auch in dieser Republikenwelt die Kunst der Gesetz¬ 
gebung auf den höchsten Gipfel gebracht worden. Hier fand Lhkurgos das 
Geheimnis die höchste Weisheit mit dem schmerzlichen Gehorsam zu ver¬ 
einen; hier gab Solon seinem Volke in den mildesten Gesetzen ein treffliches
	        
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