Full text: [Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband]] (Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband])

Von seiner Höhe sieht man am Morgen Jerusalem im Sonnenlicht, 
den Tempelplatz, die Mauern, Zion und das Gewirr der Häuser. Da 
begreift man die Schönheit der zerstörten Stadt und die Tränen, die 
über sie vergossen. 
Nach der andern Seite blickt das Auge über schwärzliches Gebirge 
ins Land hinab. Am Horizont die duftigen Höhen sind die Gebirge 
Moabs, und der blaue See ist das Tote Meer. Und die Aue mit 
waldigem Grün, das ist die Jordanebene. Wie schön, wie schön! 
Dort möchte ich sein, weit, weit weg von der Stadt, die der Seele 
Schmerz bereitet. 
Die Sehnsucht nach dem Jordan, das zunehmende Verlangen, seine 
Wellen rauschen zu hören, seine Ufer zu betreten, die Hand in sein 
heiliges Naß zu tauchen, Lippen und Stirn zu netzen, mag eine Abart 
des Heimwehs gewesen sein, denn wie Heimweh blieb der Anblick des 
fernen Jordantales vom Ölberge aus im Gemüte haften. 
Es wurde allerdings viel geredet von den Beschwerden, die ein 
Ausflug nach dem Jordan macht, und gesagt, die Ausbeute stehe in 
keinem Verhältnis zu den Kosten und Enttäuschungen; allein gewaltiger 
als vernunftkühler Rat ist heißer Wunsch des Herzens. — „Jordan — 
Johannes," sprach das Herz und blätterte rückschauend in der alten 
Bilderbibel des elterlichen Hauses, worin der Jordan abgebildet war 
und Johannes, den Heiland taufend. 
2. 
Wir brachen früh am Morgen auf. Die Sonne hatte sich eben 
erhoben, und schon war es lebendig in der Stadt. Landleute zogen mit 
ihren Erzeugnissen daher. Denn um die Osterzeit herbergt Jerusalem 
Tausende von Pilgern, und viel gehört dazu, die Hungrigen zu speisen. 
Ein Maler hat nur nötig, sich einen Platz auszusuchen, von dem er ein 
Stück Straße gewahrt, das er als Umgebung benutzt, die ununterbrochen 
von wechselnden Figurenbildern belebt wird. Mit Gemüsen kommen 
Männer, Körbe tragen einige, worin Tauben und Geflügel; goldige 
Zitronen und glutgelbe Apfelsinen bringen andere. Auf Kamelen reiten 
braune Syrier herein, und in den engen Gassen weichen die Fu߬ 
wanderer den breittretenden Ungetümen sorglich aus. Wir waren vier 
Deutsche, ein Dragoman und ein Beduine mit seiner langen Flinte über 
dem Rücken und seinen blankbeschlagenen Pistolen in der Leibbinde. 
Der Weg nach Jericho und dem Jordan führt zunächst durch die 
Senkung zwischen dem Ölberge und dem Berge des Ärgernisses, der 
rechts bleibt. 
Langsam steigt die steinige Straße an. Nach nicht gar langem Ritt 
erreichen wir ein Kirchlein, das von einigen Häusern und lebendigem 
Grün umgeben ist. Bethphage heißt die Stätte. Weiterhin wird der
	        
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