Sribel: „Kaiser Wilhelm I.".
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bei seiner Achtung vor Herkommen und Recht durchaus gewillt, die Rechte
der übrigen deutschen Bnndesfürsten in weitem Umfange zu achten. Rur for¬
derte er dabei die volle Gegenseitigkeit, die Gleichberechtigung Preußens und
Österreichs, die Anerkennung der Ehre und der Lebensbedingungen Preußens im
deutschen Bunde: nie hätte er es sich gestattet, wie es bei Friedrich Wilhelm IV.
mehrmals geschehen, aus Großmut oder Edelsinn das kleinste der ihm anver¬
trauten Staatsinteressen seinen fürstlichen Brüdern preiszugeben. Die Mängel
der deutschen Bundesverfassung lagen klar vor seinem Blicke, und vom ersten
Tage an bereitete er seine Reformvorschläge vor. Allerdings zunächst mit geringer
Hoffnung auf Erfolg. Er hatte in den Sturmjahren gelernt, daß Österreichs
Widerspruch und das Sondertum der Mitkelstaaten nicht durch Parlamentsbeschlüsse
und populäre Bewegung beseitigt werden konnten. Einen Krieg gegen Deutsche
aber nur im Falle rechtloser Augrisfe auf Preußen und nicht aus eignem Antrieb
zur Neugestaltung des Bundes zu beginnen, dieser Beschluß stand in seiner Seele
fest — und hiernach glaubte er, die Verwirklichung der deutschen Einheit selbst
nicht mehr zu erleben. Im Begriffe, gegen die badischen Rebellen 1849 in das
Feld zu gehen, schrieb er am 20. Mai an den General v. Natzmer: „Wer
Deutschland regieren will, muß es sich erobern; a la Gagern geht es nun ein¬
mal nicht. Ob die Zeit zu dieser Einheit schon gekoinmen ist, weiß Gott allein.
Daß Preußen bestimmt ist, an die Spitze von Deutschland zu kommen, liegt in
unserer ganzen Geschichte- — aber das Wann und das Wie? Darauf kommt
es an." Und ebenso am 4. April 1851: „Ja wohl! es war im November 1*50
ein zweites 1813 und vielleicht noch erhebender, weil nicht ein siebenjähriger,
fremdherrlicher Druck diese Erhebung hervorgerufen hatte; es war ein allgemeines
Gefühl, daß der Moment gekommen sei, wo Preußen die ihm durch die Geschichte
angewiesene Stellung erobern sollte! — Es sollte noch nicht sein. Aber so bald
sehe ich jetzt dazu keine Aussicht; es muß wohl verfrüht gewesen sein, und ich
glaube, wir sehen die gehoffte Stellung für Preußen nicht mehr."*)
Noch zwei andere Äußerungen des Prinzen mögen hier angeführt werden,
weil sie, sich ergänzend, den ganzen Kreis seiner deutschen Anschauungen zeichnen.
Wenige Monate nach dem Antritt der Regentschaft war die deutsche Welt
— wir werden bald sehen, weshalb — in gewaltiger Aufregung. Der Prinz
empfing damals einen Besuch des mit ihm durch wechselseitige Hochachtung nahe
befreundeten Königs von Sachsen. Dieser erwähnte, sie alle, die deutschen
Fürsten, fürchteten, daß Preußen sie verschlucken wolle. Der Prinz wies das
energisch zurück mit der Erinnerung an die stets bewiesene Gesinnung seines
Vaters und Bruders. Der König rief dagegen: aber alle Gassenjungen Berlins
reden schon davon. Ja, bemerkte der Prinz, die Gassenjungen müssen es freilich
besser wissen als ich; er wiederholte seine Erklärung, sprach zugleich aber auch
die Notwendigkeit aus, daß von anderer Seite nichts geschehe, was Preußens
Existenz bedrohen würde. Siehe her, sagte er, ans die Landkarte und dort auf
Hannover deutend, unter keinen Umständen darf ich zulassen, daß zwischen meinen
Provinzen eine Macht entsteht, die möglicherweise feindlich gegen Preußen auf¬
treten könnte.
*) G. v. Natzmer, Unter den Hohenzollern, Bd. IV, S. 141.
Paulsiek, Deutsche« Lesebuch f. Trrlia u. Unlrrsekunda.
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