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Solche Helden müssen siegen. Aber wie haßerfüllt sie auch kämpften,
stets blieben sie Menschen. Welch schöne Züge echten Christentums! Dem
gefangenen Kosaken, der vor Hunger umsinkt, gibt der ostpreußische Land¬
wehrmann sein letztes Stück Brot. Den: sterbenden Russen, der auf den:
Schlachtfelde nach einem Trunk wimmert, reicht er die eigene Feldflasche.
Es ist wunderbar, wie dieses beständige Wandeln an der Grenze
zwischen Leben und Tod die Seele läutert und vertieft. Manche Hände,
die es wohl sonst nicht getan haben, fügen sich zum Gebet ineinander.
Und wie jetzt gebetet wird! Die Gotteshäuser hier im Osten sind überfüllt,
immer stehen die Türen offen. Mancher tritt ein, der wohl früher nicht
den Weg über diese Schwelle gefunden hat.
Die Kirche in Marggrabowa. Es ist Abend, die Fenster werfen hellen
Schein auf die kleinen Hügel. Die kahlen Zweige der alten Linden biegen
sich im Sturm. Auf den Bänken sitzen Soldaten, Mann an Mann stehen
sie in den engen Gängen. Dazwischen hier und da ein Bürger, ein paar-
blonde Mädchen, die der Schrecken noch nicht ans der unglücklichen Stadt
getrieben hat. Zwei und drei Köpfe der bärtigen Krieger beugen sich über
das kleine Soldatenliederbuch. Die harten Gesichter und so wunderbar-
andächtig: Eine feste Burg ist unser Gott . . .
Nun spricht der Prediger von der Kanzel. Er spricht so schlicht von
den Dingen, die der Verstand nicht begreifen kann, und nach denen doch
das Herz faßt — am festesten .in der Not. Über die rauhen bärtigen Ge¬
sichter laufen Tränen. Und dann klingt es vom Altar: Laßt uns beten!
Es gehen Ewigkeiten vorüber . . .
Von Grodno her dröhnt der Donner der schweren russischen Geschütze:
eine gewaltsame Stimme will die Stille zerreißen, in die sich die Seele
geflüchtet hat.
Die Soldaten treten hinaus in die kalte Nacht. Am Himmel flammt es
auf: neun Dörfer brennen. Und wieder rinnt es über die rauhen bärtigen
Wangen. Die Landwehrmänner denken ihrer Dörfer daheim, ihrer Familien.
Schweren Schrittes gehen sie den Hügel hinab. Im Winde wehen
die Rote-Kreuz-Fahnen der Verbandwagen . . .
Feierlich geht durch die Straßen ein stiller Zug: ihren Wunden erlegene
Helden werden zur letzten Ruhe geleitet. Die Vorüberkommenden bleiben
stehen, nehmen die Hüte ab. Der Zug zieht über den Markt. Die Han¬
delsfrauen, die Blumen und Kränze feilbieten, nehmen ihre Schätze und
schmücken damit die schlichten Särge. Dann greifen sie nach dem leeren
Korbe und gehen heim. Still, ohne ein Wort haben sie hingegeben, was
sie gerade besaßen, worauf sie für den Tag hofften.
Es ist, als müßten zuweilen gewaltige Ereignisse kommen, um Länder
und Menschen dem Alltäglichen, dem Gleichgültigwerden zu entreißen.