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115. Abendlied. — 110. Mondnacht.
115. Abmdlied.
Von Friedrich Rückert.
1. Ich stand auf Berges Halde,
als heim die Sonne ging,
5 und sah, wie überm Walde
des Abends Goldnetz hing.
2. Des Himmels Wolken tauten
der Erde Frieden zu,
bei Abendglockenlauten
10 ging die Natur zur Ruh'.
3. Ich sprach: „O Herz, empsinde
der Schöpfung Stille nun,
und schick' mit jedem Kinde
der Flur dich auch zu ruhn.
15 4. Die Blumen alle schließen
die Augen allgemach,
und alle Wellen fließen
besänftiget im Bach.
5. Nun hat der müde Sylphe
sich unters Blatt gesetzt, 20
und die Libell' am Schilfe
entschlummert tanbenetzt.
6. Es ward dem goldnen Käfer
zur Wieg' ein Rosenblatt;
die Herde mit dem Schäfer 25
sucht ihre Lagerstatt.
7. Die Lerche sucht aus Lüften
ihr feuchtes Nest im Klee
und in des Waldes Schlüften
ihr Lager Hirsch und Reh. 30
8. Wer sein ein Hüttchen nennet,
ruht nun darin sich aus;
und wen die Fremde trennet,
den trägt ein Traum nach Haus.
35 9. Mich fasset ein Verlangen,
daß ich zu dieser Frist
hinauf nicht kann gelangen,
wo meine Heimat ist."
116. Mondnacht.
Von Rudolf Baumbach.
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1. Die Tannen im Traum sich wiegen
und atmen harzigen Duft,
lebendige Funken fliegen
und kreisen in der Luft,
45 der Mond hat Schleier gesponnen,
von Süden weht der Föhn,
und lauter rauschen die Bronnen. —
Die Nacht geht über die Höh'n.
2. Sie wandelt über die Matten
und tränkt die Blumen mild 50
und labt mit kühlem Schatten
das müd' gehetzte Wild.
Der Vöglein Lieder schweigen,
es schweigt der Herden Getön,
und Geister schweben im Neigen. — 55
Die Nacht geht über die Höh'n.