22. Lildebrand und /sadubrand.
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Aber er ist unter der Obhut seiner einsamen Mutter aufgewachsen, sie hat
ihn vielleicht verzärtelt, daß er im Waffemverk ein Stümper ist."
Die Wege waren ihm noch alle kund aus früheren Zeiten, und so
gelangte er noch vor Abend in die Nahe von Bern. Schon sah er die Türme
der Burg, und er spornte sein Roß zu schnellerem Trab. Da begegnete
ihm ein junger, stattlicher Reiter ans weißem Rosse; der Mann hatte lockiges,
hellblondes Haar und saß vornehm und mit untadeligem Anstand im Sattel;
ans seinem Schilde war Bern mit seinen Türmen abgebildet. Sollte das
nicht Hadubrand sein? Dem Alten trieb die Freude das Blut in die Wangen,
und rasch sprengte er auf den ihn: entgegenkommenden Reiter zu. Aber
dieser, der einen Überfall vermutete, legte rasch seinen Speer ein, und er
hätte Hildebrand getroffen, wenn der nicht sein Pferd herumgerissen hätte,
ihn: auszuweichen. „Wer bist du, und was willst du?" rief heftig der junge
Mann. Hildebrand entgegnete: „Ich komme aus Hunnenland, aber in fried¬
licher Absicht. Ich wollte dir nichts Arges tun. Aber sage mir, wer du bist,
oder von welcher Herkunft! Wenn du mir nur einen deiner Ahnen nennst,
die andern weiß ich. Kund sind mir in diesem Königreich alle Helden."
Stolz erwiderte der Jüngere: „Ich heiße Hadubrand und gebiete über Bern;
mein Vater, sagt man, hat Hildebrand geheißen. Aber ich habe ihn nie
gekannt; früh zog er vor Ermanrichs Zorn mit Dietrich ins Elend. Der
Hilfe ledig ließ er daheim sein Weib und seinen kaum geborenen Sohn.
Dem König Dietrich war er der teuerste Degen, kund war er allen kühnen
Mannen. Aber jetzt ist er lange dahin, auf öder Walstatt liegt er gebettet."
Da rief Hildebrand freudig: „Allvater im Himmel weih es, daß er noch lebt.
Wolltest du mit mir kämpfen, so würde dein Speer nie einen näher ver¬
wandten Mann treffen." Und er wand einen Goldreif vom Arm und rief:
„Mein Sohn, nimm hier diese Huldgabe von mir; ich bin Hildebrand, dein
Vater." Und wiederum spornte er sein Roß, um an Hadubrand heranzu¬
kommen; aber dieser rief drohend, indem er nochmals den Speer einlegte:
„Von Fremden soll man mit Speeren Gabe empfangen, Schärfe wider
Schärfe. Du willst mich mit Worten locken, alter Hunne, willst mich mit
deinem Schwerte treffen. In Trug bist du alt geworden. Von meinem
Vater haben mir schon lang Seefahrende, die übers Meer von Osten kamen,
gesagt, daß ihn der Krieg hinwegnahm. Tot ist Hildebrand, Heribrands
Sohn." Da ward auch der Meister zoruig, und er rief aus: „Waltender
Allvater, nun erfüllt sich Wehgeschick. Stets gehörte ich zu den tapfersten
Kriegern, aber in keinem der Kämpfe fiel ich; nun soll mich mit dem Schwerte
das eigene Kind erschlagen oder ich sein Mörder werden. Denn ein Feigling
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