Full text: [Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband]] (Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband])

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22. ñüldebrand und àdubrand. 
Sie betraten miteinander die Halle, die vom flackernden Herdfeucr 
erhellt war. Frau Ute erwartete bereits ihren Sohn. Fröhlich sagte Hadu- 
brand: „Hier bring' ich dir einen Gefangenen, liebe Mutter. Er hätte mich 
auf der Heide beinah erschlagen; aber dir habe ich meine Rettung zu ver- 
5 danken, du hast mich in meiner Jugend sorglich in Stoß und Sprung unter¬ 
weisen lassen. Nun bin ich meines Sieges so froh, daß ich den hungrigen, 
alten Mann gern als Gast beherberge." Fragend blickte Frau Ute bald 
ihren Sohn an, bald den fremden Mann. Sie wußte sich den Widerspruch 
in Hadubrands Worten nicht zu deuten. Sie begrüßte den Gast höflich, aber 
IO gemessen; sobald sich aber eine schickliche Gelegenheit gab, flüsterte sie ihrem 
Sohne zu: „Erweisest du nicht einem gefangenen Manne zu viel Ehre, wenn 
du ihn oben an den Tisch setzest?" Doch Hadubrand lächelte und führte au 
der Rechten die Mutter, an der Linken den Vater auf den Hochsitz, während 
die Mannen im Saale sich an den Langtischen reihten. 
15 Noch hatte Hildebrand kein Wort gesprochen, er wollte sich durch die 
Stimme nicht verraten. Aber während sie aßen, blickte Frau Ute ihn oft 
forschend und mit Spannung an; es war ihr immer, als hätte sie diesen 
Mann mit den blitzenden Augen in ihrer Jugend gekannt. 
Nachdem der Hunger gestillt war, füllte Frau Ute einen Becher mit 
20 Wein, trat damit vor Hildebrand hin und sprach: „Mit diesem Trünke heiße 
ich dich willkommen, du seltsamer Gast. Noch hab' ich kein Wort von dir 
gehört; aber meines Sohnes Gesinnung gegen dich genügt mir, um dich zu 
ehren und gern zu bewirten. Mögest du dich wohl fühlen in der Burg zu 
Bern!" Nach diesen Worten nippte sie an dem Becher und reichte ihn dem 
25 Alten hin. Dieser erhob sich schweigend, verneigte sich und trank in einem 
Zuge den dargebotenen Wein. Dann aber klirrte es, indem er den silbernen 
Becher an Frau Ute zurückgab, als ob Gold darin niederglitte. Neugierig 
schaute die Wirtin hinein; mit Befremden erblickte sie einen goldenen Ring 
auf dem Grunde des Bechers; sie ergriff ihn, und als sie ihn im Scheine 
30 des Feuers genau betrachtet hatte, schrie sie laut auf und erbleichte. „Woher", 
rief sie bebend, „hast du diesen Ring, du wunderbarer Mann?" Hiloebrand 
erwiderte: „Den Ring sendet dir, edle Frau, dein Gemahl zum Wahrzeichen 
seiner baldigen Heimkehr." Beim Klange seiner Stimme zuckte Frau Ute 
zusammen; dann aber trat sie nahe an ihn heran und sah ihm prüfend ins 
35 Auge. Die innigste Liebe leuchtete ihr daraus entgegen. Da sank sie ihm 
weinend in die Arme, und die beiden Gatten, die einander so viele Jahre 
fern gewesen waren, hielten sich lange umschlungen. 
Karl Heinrich Keck.
	        
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