Full text: [Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband]] (Teil 6 = Klasse 4, [Schülerband])

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3. Der Rhein bei Bingen. 
— Wenn die Milchstraße im Dezember schön weiß und hell scheint, so bedeutet 
es ein gutes Jahr. — Wenn die Zeit von Weihnacht bis Dreikönig neblicht 
und dunkel ist, sollen das Jahr darauf Krankheit folgen. — Wenn in der 
Christnacht die Weine in den Fässern sich bewegen, daß sie übergehen, so 
5 hofft man auf ein gutes Weinjahr. — Wenn die Rohrdommel zeitig gehört 
wird, so hofft man eine gute Ernte. — Wenn die Bohnen übermäßig wachsen 
und die Eichbäume viel Frucht bringen, so gibt es wenig Getreide. — Wenn 
die Eulen und andere Vögel ungewöhnlich die Wälder verlassen und häufig 
den Dörfern und Städten zufliegen, so gibt es ein unfruchtbares Jahr. 
10 — Kühler Mai gibt guten Wein und vieles Heu. — Nicht zu kalt und nicht 
zu naß, füllt die Scheuer und das Faß. — Reife Erdbeeren um Pfingsten 
bedeuten einen guten Wein. — Wenn es in der Walpurgisnacht regnet, so 
hofft man ein gutes Jahr. — Ist das Brustbein von einer gebratenen Martins¬ 
gans braun, so bedeutet es Kälte, ist es weiß, Schnee." 
15 Indessen steht manche Gesellschaft gleichgültig auf, den fast unüberseh¬ 
baren Tisch verlassend; andere grüßen und werden gegrüßt: so verliert sich 
die Menge nach und nach. Nur die Zunächstsitzenden, wenige wünschenswerte 
Gäste zaudern; man verläßt sich ungern, ja man kehrt einigemal gegeneinander 
zurück, das angenehme Weh eines solchen Abschiedes zu genießen, und verspricht 
20 endlich, zu einiger Beruhigung, unmögliches Wiedersehen. . . . 
In dem herrlich gelegenen Bingen wieder angelangt, fanden wir doch 
daselbst keine Ruhe; wir wünschten vielmehr nach so vielen Ereignissen uns 
geschwind in das derbe Naturbad zu stürzen. Ein Kahn führte uns flu߬ 
abwärts die Strömungen. Über den Rest des alten Felsendammes, den Zeit 
25 und Kunst besiegten, glitten wir hinab; der märchenhafte Turm, aus unver¬ 
wüstlichem Quarzstein gebaut, blieb uns zur Linken, der Ehrenfels rechts; 
bald aber kehrten wir für diesmal zurück; das Auge voll von jenen abschließen¬ 
den graulichen Gebirgsschluchten, durch welche sich der Rhein seit ewigen 
Zeiten hindurcharbeitete. Goethe. 
30 3. Der Rhein bei Bingen. 
^VXir stehen auf dem Scharlachberge, dem gesegneten westlichen Flügel 
des durch Goethe verewigten NochusbergeS, mit dem das Rheinische 
Schiefergebirge zum ersten Male auf das linke Ufer des Rheines springt. 
Unser Blick schweift hinab auf den Rhein- und Nahegau und will sich von 
35 dem entzückenden Bilde nicht losreißen. 
Vor uns erhebt sich auf niäßigem Hügel, nach Süden hin umsäumt von 
wohlbestellten Feldern und sonnigen Weingärten, stolz die nunmehr neu
	        
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