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A. Erzählende Prosa. I. Sagen.
Von Süden her kommt aus Muspelheim der lohende Fenerriese
gefahren mit flammendem Schwert. Ihn und seine Scharen schreckt
der feurige Glutstreif nicht, der inmitten der Bifrost- Brücke entlang
brennt. — Frei ist Loki und steuert das Schiff, das die wutheulenden
Sturmriesen, die unerbittlichen Frost- und Steinriesen durch Luft und
Wasser trägt zum Kampfplatz wider die einstigen Göttergenossen. —
Frei ist auch der Fenriswolf uub rennt mit klaffendem Rachen daher:
sein Unterkiefer streift den Boden, sein Oberkiefer reicht zum Himmel:
alles will er verschlingen. Gift und Feuer glühn ihm aus Nase und
Augen. — Gift speit auch die ungeheure Midgardschlange, die sich
neben ihm entlang ringelt. Das Meer war brausend zurückgewichen,
als sie sich hob, und zitternd bebte unter ihr der Erde Grund.
Als diese alle sich nähern, berstet der Himmel, und die Brücke
bricht. Zum letztenmal stößt Heimdall, ihr Wächter, ins Horn, daß
laut es schallt und weithallend sein Klang Einherier und Götter weckt,
sie neubelebt in die alte sieggewohnte Schlachtordnung ruft.
Voran reitet Odin auf Sleipnir, dem schnellen. Abgeworfen hat
er den breitkrümpigen Hut, der das fehlende Auge bisher so sorglich
verdeckte; schimmernden Goldhelm aufs Haupt gedrückt, reitet er trotzig
daher; mag der güldene Glanz doch allen Feinden künden, wo Wal¬
vater sie finden. Hammerschwingend hält sich Thor ihm zur Seite.
Aber wenig kann den Erhabenen er schützen, als der Fenriswolf wider
Odin anrennt; denn die Midgardschlange erhebt zischend ihr Haupt
wider ihn selber, sucht ringelnden Leibes den Donnerer zu umschlingen,
in ihrer Gelenke Verstrickung ihn tödlich zu erdrücken. Zwar gelingt
es dem kampfeszornigen Blitzewerfer, das Ungetüm mit feinen Eisen-
handschuhen zu packen und mit seinem Hammer den Kopf ihm zu zer¬
schmettern; aber es ist seine letzte That. Tot füllt er neben der Er¬
schlagenen zu Boden. Das Gift, das sie auf ihn gespieen, hat seines
Lebens Odem versehrt.
Heimdall stellt sich Lokis wütendem Grimm entgegen. Surtnrs
flammendem Schwerte versucht Freir stand zu halten.
Tapfern Mutes dringen die Einherier auf die Scharen der andern
Riesen ein, und Tyr, der einhändige Schwertgott, vertritt dem blnt-
geifernden Hunde der Hel den Weg. Weh ihm, daß er bei des Wolfes
Fesselung die Rechte verlor! nun kann er des Hundes nicht Herr werden
und wird von ihm zerrissen.
Erbarmungslos wütet der Kampf und endet erst mit der Ver¬
nichtung aller.
Tot sind Tyr und Thor, der Donnerer. Loki und Heimdall, der
Feuergott und der Wächter der Regenbogenbrücke, der als solcher auch
der Gott des Regens ist, haben sich gegenseitig vernichtet wie ihre
Elemente, Feuer und Wasser, in alter Feindschaft es thun.