Full text: Prosalesebuch für Untertertia der Vollanstalten oder Klasse III der Realschulen (Teil 4, [Schülerband])

geben.“ Doch begütigend und das kaum ausgesprochene schlimme 
Wort bereuend, setzt sie alsbald hinzu: „Du bist selbst schuld, 
dass wir in diesen Streit geraten sind; mir ist es immer leid, glaube 
mir das auf meine Treue; zu treuer Herzensfreundschaft bin ich 
5 immer wieder bereit.“ Aber das Wort ist zu arg gewesen; beim 
Ausgang aus dem Münster fordert Brunhild von Kriemhild, dass 
sie beweise, was sie gesagt. Als nun aber Kriemhild Ring und 
Gürtel zeigt, die einst Siegfried der gebändigten Brunhild abge¬ 
nommen, da ist deren Übermut gebrochen; doch hoch auf richtet 
io sie sich in grimmiger Rachsucht; es ist gewiss, dass Siegfried 
sich seines früheren Verhältnisses zu ihr, dass er sich der durch 
ihn, nicht durch Günther zweimal geschehenen Überwältigung 
ihrer stolzen Kraft gegen Kriemhild gerühmt hat; sie ist öffentlich 
bis auf den Tod beleidigt. Siegfrieds Tod ist beschlossen, 
io Der Arglose sieht den Streit nicht an als den Anfang des 
bitteren Kampfes auf Tod und Leben, dem er selbst unterliegen 
soll; eitler Ehre als ein rechter Held nicht begehrend, hat er sich 
nie der Taten gerühmt, die er vollbracht, am wenigsten des, was 
ihm gegen ein Weib gelungen; nur dass Ring und Gürtel von Brun- 
20 bild sind, das freilich hat er gesagt. Eine gleiche Zurückhaltung 
und Mälsigung will er auch von den Frauen beobachtet wissen. 
„Sie haben sich vergessen,“ meint er, „und dass mein Weib das 
deinige, Günther, betrübt hat, das ist mir ohne Massen leid.. Wir 
wollen von dem, was geschehen ist, schweigen; unsre Frauen 
25 sollen schweigen wie wir.“ 
Aber Brunhild schweigt nicht, kann nicht schweigen; jam¬ 
mernd in ohnmächtiger Wut, sitzt sie einsam im Gemache; da findet 
sie Hagen und erfährt von ihr noch genauer, wie schwer sie ge¬ 
kränkt sei. Seine Herrin und Königin weint, gekränkt, bis in den 
3o Tod beleidigt von einem Manne — der Mann muss sterben. Die 
Brüder der Beleidigerin, die drei Könige, und Ortwin von Metz 
werden zur Beratung hinzugezogen, und nur der jüngste, Giselher, 
hält die Sache als einen Frauenstreit für zu gering, als dass ein 
Held wie Siegfried darum das Leben verlieren sollte; die übrigen, 
35 selbst der im Anfang schwankende Günther, in dem die Dankbar¬ 
keit gegen Siegfried doch noch nicht ganz erloschen ist, stimmen 
für Siegfrieds Tod. Es soll ein falsches Kriegsgerücht verbreitet, 
das Heer aufgeboten und, da man voraussetzt, dass Siegfried sich 
dieser Heerfahrt nicht entziehen werde, der Held auf diesem 
40 Kriegszuge erschlagen werden.
	        
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