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der evangelischen Kirche der Individualität und Selbständigkeit der ein¬
zelnen Schwester weitere Grenzen lassen. Neben den religiösen Pflege¬
genossenschaften sind in neuerer Zeit auch Vereine und Anstalten ent¬
standen, welche sich die Ausbildung von sogenannten weltlichen Kranken¬
pflegerinnen zur Aufgabe gemacht haben; besonders zu bemerken sind
die Vereine zur Pflege im Kriege Verwundeter oder die Vereine vom Roten
Kreuz. Alle diese Schöpfungen christlicher Liebesthätigkeit wirken höchst
segensreich. Nirgends wird nach dem Glaubensbekenntnisse des der
Pflege Bedürftigen gefragt; hier thut in Krankheit und Leiden Hülfe
not — das genügt allein, damit das Werk der Barmherzigkeit an allen
geübt werde. Nach Lhr. Herzog.
Elisabeth Fry.
„Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.
Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen."
Während der Stifter der Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern
dem ersten dieser Worte des Heilandes eine so segensreiche Verwirklichung
gegeben hat, war in unserem Jahrhunderte eine edle Frau bemüht, das
zweite, meistens weit weniger beachtete, zur Erfüllung zu bringen. Es
ist die Engländerin Elisabeth Fry.
Elisabeth Fry war die Tochter eines reichen Londoner Kaufmanns,
Namens John Gurney, und wurde geboren im Jahre 1780. Schon in
früher Jugend offenbarte sie ein warmes, liebevolles Herz für alle, die
ihr nahe standen, und zeigte bereits eine große Fürsorge für Bedürftige.
Als sie heranwuchs, errichtete sie auf dem Gute ihres Vaters, Earlham-
hall bei Norwich, eine Freischule für die armen Kinder der benachbarten
Gegend und beaufsichtigte dieselbe. Obgleich sie wegen ihres heitern
Wesens und ihrer anmutigen Erscheinung in geselligen Kreisen allgemein
beliebt und vielfach gesucht wurde, blieb sie doch die sorgsame und uner¬
müdliche Vorsteherin dieser Anstalt.
Eine gefährliche Krankheit, welche ihrem Gemüte eine ernste religiöse
Richtung gab, und der Umgang mit Freunden, welche der „Gesellschaft
der Freunde" oder den Quäkern angehörten, veranlaßte sie, sich dieser
Sekte anzuschließen.
Als Elisabeth zwanzig Jahre alt war, vermählte sie sich mit einem
Herrn Joseph Fry, einem reichen Kaufmann in London. Ein großer
Kinderkreis sammelte sich nach und nach um sie, und mit zärtlicher
Sorge und seltener Treue stand sie der zahlreichen Familie vor. Von
den elf Kindern, die Gott ihr geschenkt hatte, wurde ihr nur eins früh¬
zeitig durch den Tod genommen; alle übrigen sah sie unter ihrer treuen
Pflege und Hut heranwachsen und gedeihen.
Auch als Frau und Mutter fuhr Elisabeth fort, die traurige Lage
der Armen, Kranken und Elenden mit warmem, teilnehmendem Herzen
zu mildern; sie suchte sie in ihren dürftigen Hütten auf und unterstützte
sie, soviel sie nur unter dem Beistände guter Freunde vermochte. Für
ihre Hülfsbedürftigen hatte sie stets einen großen Vorrat von Kleidungs-