Full text: [Teil 4, [Schülerband]] (Teil 4, [Schülerband])

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stücken und Flanell sowie eine kleine Hausapotheke bereit. Im strengen 
Winter wurde in einem Vorhause Suppe in ausreichender Menge zu¬ 
bereitet, um Hunderte von Armen mit einem nahrhaften Mahle zu er¬ 
quicken. Wo es not that, teilte sie selbst Kleider und Heilmittel an die 
Kinder und Alten aus, und sie wußte in den Kreis ihrer Liebesthätigkeit 
ihr ganzes Haus, ihre Kinder, Verwandten und Freunde zu ziehen. Doch 
nicht bloß leibliche Hülfe brachte sie den Armen, vor allem suchte sie 
auch durch religiösen Zuspruch in ihnen ein höheres Leben anzufachen. 
Ihre reine Gesinnung und die warme Teilnahme ihres Herzens 
für alles menschliche Los, die aus ihrem ganzen Wesen und Thun her¬ 
vorleuchteten, gewannen ihr einen großen Einfluß auf die Gemüter. 
Ihr eröffnete sich oft ein Herz, ihr gehorchte ein Wille, die gegen alle 
anderen Menschen verschlossen und störrig blieben. Viele Beispiele zeugen 
von dieser stillen Macht ihres Herzens. Eines Tages ging sie durch eine 
Straße Londons, als ihr eine nett und anständig gekleidete Frau auf¬ 
fiel, die sehr bekümmert aussah. Ihrem Scharfblick, der aus dem Wohl¬ 
wollen ihrer Seele für alle Bekümmerten und Gebeugten hervorging, 
entzog sich das nicht. Von innerem Drange getrieben, sagte Elisabeth, 
nach Sitte der Quäker sie mit du anredend: „Du scheinst in großer Be¬ 
drängnis zu sein. Ich bitte dich, vertraue mir die Ursache deines 
Kummers? Vielleicht kann ich dir helfen." Die Frau aber antwortete 
nicht. Elisabeth ließ jedoch nicht ab, ihr freundlich zuzureden und be¬ 
wog sie, mit ihr in das Haus ihres Bruders zu gehen, der in derselben 
Straße wohnte. Durch ihr liebevolles Forschen erhielt sie endlich Auf¬ 
schluß über alles Leid der Unglücklichen. Die Frau bedurfte keiner Unter¬ 
stützung an Geld, sondern nur des Rates einer frommen, besonnenen 
Freundin, die sie hier nun so unerwartet gefunden hatte. Sie gestand, 
daß sie auf dem Wege zur Themse gewesen sei, um ihren Leiden durch 
Selbstmord ein Ende zu machen. So hatte die herzgewinnende Güte 
der Elisabeth diese Unglückliche vom zeitlichen und ewigen Verderben 
errettet. — Ein Fall anderer Art war der folgende: Die Pocken forderten 
bisher, namentlich unter den Kindern der ärmeren Bevölkerung, zahl¬ 
reiche Todesopfer. Nun kam die Kuhpockenimpfung auf, aber die Leute 
waren nicht zu bewegen, ihre Kinder impfen zu lassen. Da empfahl 
Elisabeth nicht bloß die Impfung, sondern übte sie auch mit leichter und 
geschickter Hand selbst aus, nachdem sie das einfache Verfahren von 
einem der ersten Entdecker desselben erlernt hatte. Zuzeiten hielt sie 
ordentliche Umschau im Sprengel, und bald waren im Bereiche ihres 
Einflusses die echten Pocken verschwunden. 
Entscheidend für Elisabeth Frys fernere menschenfreundliche Wirk¬ 
samkeit war ein Besuch, den im Jahre 1813 vier Herren, unter ihnen 
ein Freund der Elisabeth, in Newgate, dem großen Londoner Gefängnisse, 
wachten. Durch deren Schilderung erhielt sie die erste Anregung zum 
Besuche dieser Strafanstalt, in der sich damals auch ungefähr dreihundert 
weibliche Gefangene befanden. Das Gefängniswescn war damals in 
England noch in sehr traurigem Zustande. Die Gefangenen hatten fast 
gar keine Aufsicht und konnten, außerdem daß sie in großen Räumen 
zusammen eingeschlossen waren, alle möglichen Freiheiten und Zügellosig- 
Kippenberg, B. IV. (Neue Ausgabe.) 21
	        
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