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welcher Regel wirst du unsern Werth bestimmen?“ „Nach welcher
Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel,“ antwortete der Mensch,
„in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid.“ „Vortrefflich!“
versetzte der beleidigte Löwe. „Wie weit würde ich alsdann unter
dem Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht sein,
Mensch! Verlaß die Versammlung!“
3. Der Mensch entfernte sich. — „Nun,“ sprach der höhnische
Maulwurf — und Hamster und Igel stimmten ihm wieder bei —
„siehst du, Pferd? Der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser
Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt wie wir.“ „Aber aus
besseren Gründen als ihr!“ sagte der Löwe und warf ihnen einen
verächtlichen Blick zu.
4 Der Löwe fuhr weiter fort: „Der Rangstreit, wenn ich es
recht überlege, ist ein nichtswürdiger Streit. Haltet mich für den
Vornehmsten oder für den Geringsten; es gilt mir gleichviel. Genug,
ich kenne mich!“ Und so ging er aus der Versammlung. Ihm
folgte der weise Elephant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der
kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz alle, die ihren Werth fühlten oder
zu fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Ver—
sammlung am meisten murrten, waren — der Affe und der Esel.
Lessing.
20. Die Geschichte des alten Wolfes.
1. Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den
gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu
leben. Se machte sich also auf und kam zu einem Schäfer, dessen
Hürden seiner Höhle die nächsten waren. „Schäfer,“ sprach er, „du
nenn mid ba blutgierigen Räuber, der ich doch wirklich nicht bin
Freil. muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert;
denn unger thut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger; mache
mich nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn
ich bin wirklich das zahmste, sanftmüthigste Thier, wenn ich satt bin.“
— „Wenn du satt bist? Das kann wohl sein“, versetzte der Schäfer;
„aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie.
Geh deinen Weg.“