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32. Der gelühmte Kranich.
Der Herbst entlaubte schon den bunten Hain
Und streut aus kalter Luft Reif auf die Flur,
Als am Gestad' ein Heer von Kranichen
Sich sammelte, um in ein wirtbar Land
Jenseit des Meers zu ziehn. Ein Kranich, den
Des Jägers Pfeil am Fuß getroffen, saß
Allein betrübt und stumm, und mehrte nicht
Das wilde Lustgeschrei der Schwärmenden,
Und war der laute Spott der frohen Schar.
„Ich bin durch meine Schuld nicht lahm,“ dacht' er,
In sich gekehrt. „Mich trifft mit Recht
Spott und Verachtung nicht. Nur, ach! wie wird's
Mir auf der Reis' ergehn, mir, dem der Schmerz
Muth und Vermögen raubt zum weiten Flug?
Ich Unglückseliger! Das Wasser wird
Bald mein gewisses Grab. Warum erschoß
Der Grausame mich nicht!“ — Indessen weht
Gewogner Wind vom Land ins Meer. Die Schar
Beginnt, geordnet, jetzt die Reis' und eilt
Mit schnellen Flügeln fort und schreit vor Lust.
Der Kranke nur blieb weit zurück und ruht'
Auf Lotosblättern oft, womit die See
Bestreuet war, und seufzt' vor Gram und Schmerz.
Nach vielem Ruhn sah er das bess're Land,
Den güt'gern Himmel, der ihn plötzlich heilt;
Die Vorsicht leitet ihn beglückt dahin —
Und vielen Spöttern ward die Flut zum Grab
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E. v. Kleist.
33. Adler und Taube.
Ein Adlersjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus;
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
Der ersten Schwinge Sennkraft ab.
Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain,
Fraß seinen Schmerz drei Tage lang
Und zuckt' an Qual
Drei lange, lange Nächte lang.
Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt'ger Balsam
Allheilender Natur.
Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
Und reckt die Flügel — ach!
Die Schwingkraft weggeschnitten!
vebt ach mühsam kaum
Am Voden weg
Unwürd'gem Raubbedürfniß nach,
Und ruht tieftrauernd
Auf dem niedern Fels am Bach.
Er blickt zur Eich' hinauf,
vHinauf zum Himmel —
Und eine Thräne füllt sein hohes Aug'.