Full text: [Abtheilung 2 = (Quarta, Tertia), [Schülerband]] (Abtheilung 2 = (Quarta, Tertia), [Schülerband])

315 
32. Der gelühmte Kranich. 
Der Herbst entlaubte schon den bunten Hain 
Und streut aus kalter Luft Reif auf die Flur, 
Als am Gestad' ein Heer von Kranichen 
Sich sammelte, um in ein wirtbar Land 
Jenseit des Meers zu ziehn. Ein Kranich, den 
Des Jägers Pfeil am Fuß getroffen, saß 
Allein betrübt und stumm, und mehrte nicht 
Das wilde Lustgeschrei der Schwärmenden, 
Und war der laute Spott der frohen Schar. 
„Ich bin durch meine Schuld nicht lahm,“ dacht' er, 
In sich gekehrt. „Mich trifft mit Recht 
Spott und Verachtung nicht. Nur, ach! wie wird's 
Mir auf der Reis' ergehn, mir, dem der Schmerz 
Muth und Vermögen raubt zum weiten Flug? 
Ich Unglückseliger! Das Wasser wird 
Bald mein gewisses Grab. Warum erschoß 
Der Grausame mich nicht!“ — Indessen weht 
Gewogner Wind vom Land ins Meer. Die Schar 
Beginnt, geordnet, jetzt die Reis' und eilt 
Mit schnellen Flügeln fort und schreit vor Lust. 
Der Kranke nur blieb weit zurück und ruht' 
Auf Lotosblättern oft, womit die See 
Bestreuet war, und seufzt' vor Gram und Schmerz. 
Nach vielem Ruhn sah er das bess're Land, 
Den güt'gern Himmel, der ihn plötzlich heilt; 
Die Vorsicht leitet ihn beglückt dahin — 
Und vielen Spöttern ward die Flut zum Grab 
—2 
2 
E. v. Kleist. 
33. Adler und Taube. 
Ein Adlersjüngling hob die Flügel 
Nach Raub aus; 
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt 
Der ersten Schwinge Sennkraft ab. 
Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain, 
Fraß seinen Schmerz drei Tage lang 
Und zuckt' an Qual 
Drei lange, lange Nächte lang. 
Zuletzt heilt ihn 
Allgegenwärt'ger Balsam 
Allheilender Natur. 
Er schleicht aus dem Gebüsch hervor 
Und reckt die Flügel — ach! 
Die Schwingkraft weggeschnitten! 
vebt ach mühsam kaum 
Am Voden weg 
Unwürd'gem Raubbedürfniß nach, 
Und ruht tieftrauernd 
Auf dem niedern Fels am Bach. 
Er blickt zur Eich' hinauf, 
vHinauf zum Himmel — 
Und eine Thräne füllt sein hohes Aug'.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.