Full text: [Abtheilung 2 = (Quarta, Tertia), [Schülerband]] (Abtheilung 2 = (Quarta, Tertia), [Schülerband])

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erkennen.“ So sprach er und ging hinweg, sich zu baden und zu 
salben. Und wie er zurückkam, goß Athene hohe Anmuth um sein 
Haupt; sein dunkles Haar umringelte in vollem Wuchse den stolzen 
Scheitel, einem Unsterblichen gleich trat er wieder in den Saal. Dann 
wandte er sich zu seiner Gemahlin und sprach: „Die Götter haben 
deine Augen mit Blindheit geschlagen, da du mich noch nicht erkennest. 
Aber versuche mich nur. Ich will dir auch die geheimen Zeichen 
sagen, die nur dir und mir und sonst niemand bekannt sind. Siehe, 
mitten auf dem Platze, wo wir den Palast erbauten, stand im blühend— 
sten Safte ein schattiger Delbaum, wie eine Säule gewachsen. Und 
ich traf die Ordnung der Räume also, daß er inmitten des Schlaf— 
gemaches zu stehen kam. Als nun die Kammer schön aus Steinen 
erbaut und die Decke von Holz zierlich gebohnt war, kappte ich die 
Krone des Baumes ab, den Stamm aber fing ich an von der 
Wurzel aus zu behauen und zu glätten. So bildete ich scharf nach 
der Richtschnur den Fuß des Bettes und meißelte dieses selbst bis 
zur Vollendung aus; dann durchwirkte ich die Lagerstatt künstlich mit 
Gold und Silber und Elfenbein und spannte von starker Stierhaut 
Riemen darin für die Betten. Das ist das Lager, Penelope. Ob es 
noch steht, weiß ich nicht; wer es aber anders geordnet hat, der 
mußte den Oelbaum von seiner Wurzel trennen.“ — Die Kniee 
zitterten der Königin, da sie das Zeichen erkannte. Weinend erhob 
sie sich, eilte auf den Gatten zu, umschlang ihm den Hals mit offe— 
nen Armen, küßte sein Haupt und küßte es wieder und sprach: „Odys— 
seus, du bist ja immer so gut, so voll Verstandes gewesen; darum 
zürne mir nicht! Die ewigen Götter haben Leid über uns verhängt, 
weil es ihnen zu selig däuchte, wenn wir unser junges Leben in Ein— 
tracht mit einander verbringen und auf sanftem Wege dem Alter 
nahen sollten. Sei mir nicht gram, daß ich nicht auf der Stelle dich 
willkommen geheißen habe. Mein Herz war in beständiger Angst 
ob nicht irgend ein schlauer Betrüger mich täuschte!“ — Die halbe 
Nacht verging den Gatten unter gegenseitiger Erzählung des unsäg— 
lichen Elends, welches beide im Laufe der Jahre erduldet, und der 
Königin kam kein Schlaf in die Augenlider, bis Odysseus ausführlich 
von allen seinen Irrfahrten ihr berichtet hatte. 
Nach Schwab.
	        
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