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128. Brief der Frau Hat Goethe an ihren Sohn.
I.
. Frankfurt, den 17. November 1786.
Lieber Sohn!
Eine Erscheinung aus der Unterwelt hätte mich nicht mehr in Ver¬
wunderung setzen können als Dein Brief aus Rom. Jubilieren hätte ich
5 vor Freude mögen, daß der Wunsch, der von frühester Jugend an in Deiner
Seele lag, nun in Erfüllung gegangen ist. Einen Menschen wie Du bist,
mit Deinen Kenntnissen, mit dem reinen, großen Blick für alles, was gut,
groß und schön ist, der so ein Adlerauge hat, muß so eine Reise ans sein
ganzes übriges Leben vergnügt und glücklich machen — und nicht allein
10 Dich, sondern alle, die das Glück haben, in Deinem Wirkungskreise zu leben.
Ewig werden mir die Worte der seligen Klettenbergerin im Gedächtnis
bleiben: „Wenn Dein Sohn Wolfgang nach Mainz reiset, bringt er mehr
Kenntnisse mit als andere, die von Paris und London zurückkommen." —
Aber sehen hätte ich Dich mögen beim ersten Anblick der Peterskirche! Doch
15 Du versprichst ja, mich auf der Rückreise zu besuchen; da mußt Du mir alles
haarklein erzählen. Vor ungefähr vier Wochen schrieb Fritz von Stein,
er wäre Deinetwegen in großer Verlegenheit; kein Mensch, selbst der Herzog
nicht, wisse, wo Du wärest; jedermann glaubte Dich in Böhmen usw. Dein
mir so lieber und interessanter Brief vom 4. November kam Mittwochs den
20 den 15. abends um 6 Uhr bei mir an. —
Von meinem innern und äußern Befinden folgt hier ein genauer und
getreuer Abdruck. Mein Leben fließt still dahin wie ein klarer Bach. Unruhe
und Getümmel war von jeher meine Sache nicht, und ich danke der Vor¬
sehung für meine Lage. Tausenden würde so ein Leben zu einförmig vor-
25 kommen, mir nicht. So ruhig mein Körper ist, so tätig ist das, was in mir
denkt. Da kann ich so einen ganzen geschlagenen Tag ganz allein zubringen;
ich erstaune, daß es Abend ist, und bin vergnügt wie eine Göttin, und mehr
als vergnügt und zufrieden sein, braucht man doch wohl in dieser Welt nicht.
Deine Freunde sind noch alle, die sie waren; keiner hat so Riesenschritte
30 wie Du gemacht. Wenn Du herkommst, müssen diese Menschenkinder alle
eingeladen und herrlich traktiert werden: Wildbret, Braten, Geflügel wie
Sand am Meer — es soll eben pompös hergehen!
Da fällt mir nun ein untertäniger Zweifel ein, ob dieser Brief auch
wohl in Deine Hände kommen möchte. Ich weiß nicht, wo Du in Rom
35 wohnst; Du bist halb inkognito, wie Du schreibst — wir müssen das Beste
hoffen. Du wirst doch, ehe Du kommst, uoch vorher etwas von Dir hören