Johann Calvin.
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ihrer Heimat nach Genf geflohenen Glaubensgenossen. Geschenke oder besondere
Zulagen, durch die ihn der Nat persönlich auszeichnen oder belohnen wollte,
lehnte er in vielen Fällen ab. In der Öffentlichkeit zeigte er sich selten und
fast nur, wenn seine Berussarbeiten, Kanzel oder Katheder, eine Ratssitzung
oder Volksversammlung, ihn riefen. Im gewöhnlichen Umgang war er wenig
gesprächig, ja wortkarg und einsilbig; lange Reden liebte er auch bei anderen
nicht und verhaßt war ihm jede offenkundige Schmeichelei.
Calvin hatte während seines Lebens, in Genf und auswärts, mit den
Menschen üble Erfahrungen gemacht. Männer, denen er jahrelang sein Wohl-
wollen bewiesen, die er in sein Vertrauen gezogen, die er aus besondere
Empfehlungen hin in sein Haus ausgenommen, hatten ihn verlassen, sein Ver-
trauen mißbraucht, ihn getäuscht. Seine Beurteilung der Menschen hatte
etwas von Menschenverachtung angenommen; er war scheu und mißtrauisch
geworden. Inmitten seines vielbeschäftigten Lebens führte Calvin, darf man
vielleicht sagen, dennoch ein etwas vereinsamtes Dasein. Die einzigen, mit
denen er einen wirklich vertraulichen Verkehr unterhielt, waren wenige ihm
unbedingt ergebene Geistliche und einige Auserwählte aus den Kreisen des
Magistrats und der vornehmen Flüchtlinge. In dem engen Kreise dieser
Männer atmete er zuweilen von seinen Arbeiten auf, da führte er eine zwang-
lose Unterhaltung, da sprach das Herz zum Herzen.
So herrschte dieser außerordentliche Mensch von seinem Studierzimmer
aus ohne einen obrigkeitlichen Titel, ja eigentlich im Widerspruch mit dem ge-
schriebenen Recht, das er selbst geschaffen, über Kirche und Staat. Der Fremde,
der den kleinen, kränklichen Mann mit dem blassen Gesichte schweigsam über
die Straße einhergehen sah, ahnte nicht, eine wie gewaltige Stellung er ein-
nahm, wenn nicht vielleicht die ehrfürchtigen Grüße der Begegnenden ihn auf-
merksam machten. Die Verehrung für Calvin war in der letzten Zeit innerhalb
der Bürgerschaft fast ungeteilt; freilich war diesem Gefühl immer etwas wie
Furcht beigemischt. Wenn er sich auch nicht einer eigentlichen Volkstümlichkeit
in dem Sinne erfreute, wie sie dem deutschen und schweizerischen Reformator
in so reichem Maße zuteil geworden, so hatte doch jedermann ein lebhaftes
Gefühl von dem, was er für Staat und Kirche, für ganz Genf war, und an
Beweisen von Anhänglichkeit und Liebe fehlte es ihm auch nicht. Unter den
Katholiken fielen spöttische Bemerkungen darüber, daß Genf, welches die
kirchliche Bilderverehrung abgeschafft habe, nun mit den Bildern Calvins
einen Kult treibe. Als einst, so wird erzählt, ein einfacher Fremder sich
in Genf nach dem „Bruder Calvin" erkundigte, wurde er rauh ange-
fahren und ihm bedeutet, daß der Gesuchte nicht „Bruder", sondern „Herr"
anzureden sei.