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97. Anstand und Sittlichkeit. 98. Gustav Adolf als Feldherr.
97. Anstand und Sittlichkeit.
Anstand und Sittlichkeit beruhen beide auf einem Gefühle, welches als
leitender Engel dem Willen zur Seite steht. Der Anstand verbietet mehr, als
daß er positive Pflichten auferlegte; indes er nur will, daß man vermeiden soll,
was irgend auf eine Weise jemanden unangenehm berühren könnte, so fordert
die Sittlichkeit, daß man sich sogar bestrebe, andern wohlzuthun. Wenn der An¬
stand verlangt, Alles abzulegen, wodurch man auffallen könnte, und daß man sich
seinen Umgebungen anbilde, verlangt die Sittlichkeit eine innere Ausbildung des
Gefühls für das Gute. Wenn der Anstand jede lebhafte Gefühlsäußerung ver¬
bietet, gebietet die Sittlichkeit Offenheit des Gemütes. Der Anstand macht es
zur Pflicht, die Menschen zu schonen, die Sittlichkeit, sie zu lieben. Die Vor¬
schriften des Anstandes, wenn es welche giebt, sind kasuistisch und berücksichtigen
Zeit und Umstände. Jeder Stand, jedes Alter, jedes Land fordert ein anderes
Benehmen, und es giebt unendliche Modifikationen des Anstandes, welche mit der
Mode wechseln. Die Sittlichkeit giebt allgemeine Gebote, welche auf der Ver¬
nunft beruhen. Der Anstand gleicht mehr dem Gärtner, der die üppigen Zweige
beschneidet, und die Sittlichkeit dem, der das gute Reis auf den wilden Stamm
pfropft. Anständig ist es, den Gewohnheiten der Gesellschaft gemäß zu leben;
sittlich lebt man, wenn man die Forderungen der Vernunft erfüllt. Der Welt¬
mann ist anständig, der Tugendhafte sittlich, und beides miteinander zu vereinen,
ein Weltmann und Weiser zu sein, ist die schöne Aufgabe des Lebens im Um¬
gänge mit den Menschen. §. ©. v. dXuanfct.
98. Gustav Adolf als Feldherr.
Gustav Adolf war ohne Widerspruch der erste Feldherr seines Jahrhunderts
und der tapferste Soldat in seinem Heere, das er sich selbst erst geschaffen hatte.
Mit der Taktik der Griechen und Römer vertraut, hatte er eilte bessere Kriegs¬
kunst erfunden, welche den größten Feldherrn der folgenden Zeit zum Muster
diente. Die uubehilflichen großen Eskadrons verringerte er, um die Bewegungen
der Reiterei leichter und schneller zu machen; zu eben dem Zwecke rückte er die
Bataillone in weitere Entfernungen auseinander. Er stellte seine Armee, welche
gewöhnlich nur eine einzige Linie einnahm, in einer gedoppelten Linie in Schlacht- j
ordnung, daß die zweite anrücken konnte, wenn die erste zum Weichen gebracht
war. Den Mangel an Reiterei wußte er dadurch zu ersetzen, daß er Fußgänger
zwischen die Reiter stellte, welches sehr oft den Sieg entschied; die Wichtigkeit des
Fußvolks in Schlachten lernte Europa erst von ihm. Ganz Deutschland hat die
Mannszucht bewundert, durch welche sich die schwedischen Heere auf deutschem
Boden in den ersten Zeiten so rühmlich unterschieden. Alle Ausschweifungen
wurden aufs strengste geahndet, am strengsten Gotteslästerung, Raub, Spiel und