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32. Winterlied. 33. Der Vater im Schnee.
32.
Wenn ich einmal der Stadt entrinn',
Wird's mir so wohl in meinem Sinn;
Ich grüße Himmel, Meer und Feld
In meiner lieben Gotteswelt!
Ich sehe sroh und frisch hinein,
So glücklich wie ein Vögelein,
Das aus dem engen Kerker fleugt
Und singend in die Lüfte steigt.
Auch sieht mich alles freundlich an,
Im Schmuck des Winters angethan,
Das Meer, gepanzert, weiß und hart,
Der krause Wald, der blinkend starrt.
Der lieben Sänger buntes Heer -
Hüpft auf den Ästen hin und her
Winterlieb.
Und sonnet sich im jungen Licht,
Das durch die braunen Zweige bricht.
Hier keimt die junge Saat empor
Und gucket aus dem Schnee hervor;
Dort lockt des Thales weiches Moos
Das junge Reh auf seinen Schoß.
Ratur, du wirst mir nimmer alt
In deiner wechselnden Gestalt;
Natur, so hehr, so wunderbar!
Und doch so traut, und doch so wahr!
Auf, Atalante, renne frisch!
Ich wittre schon den frohen Tisch!
Der goldne Hafer harret dein,
Und mein der goldne deutsche Wein.
Graf ju 0 totderg.
33. Der Vater im Schnee.
Die Mutter, die Kinder, Großvater zumal,
Die saßen zu Abend beim häuslichen Mahl.
Die Mutter schaute zum Fenster hinaus:
„Wie wirbelt der Schnee im schrecklichen
Graus!"
Des Greises Mienen sind ernst und kalt:
„Im Frost erliegt der weite Wald!"
Die Kinder speisen; noch ist nicht Not;
Wie dampft die Schüssel, wie lockt das Brot!
Die Mutter: „Wo weilet der Vater so lang'!
Wie wird mir zur Stunde ums Herz so bang!"
„O sieh doch, lieb Mutter, die Blumen schön,
Wie Frühlingsgarten am Fenster zu sehn!
O wären beim Vater wir in dem Hain,
Wie wollten am silbernen Wald wir uns
freun,
Da wachsen gleich Blumen himmelan
Die Tannen und Fichten, weiß angethan!"
Großvater spricht: „Wenn die Sonn' aufgeht,
Dann laßt uns zum Walde, jetzt ist's zu spät.
Der Windmann hat heute viel zu thun,
Er läßt nicht Bäume noch Häuser ruhn.
O weh; wie der Schnee ans Fenster flirrt,
Wie im Kamine der Sturmwind schwirrt!"
„Eure Hände faltet!" die Mutter spricht,
„Daß Gott ihn laß ohne Hilfe nicht!"
Die Kinder stehen am Abendmahl
Und falten die kleinen Hände zumal,
Sie heben die Augen zum Himmel empor
Und sprechen der Mutter nach im Chor;
Der Alte schweigend zur Erde schaut,
Die Mutter, die Kinder beten laut:
„Ach Herrgott, führe durch deine Macht
Den Vater glücklich durch Sturm und
Nacht!"
Und draußenher ein seltsamer Sang,
Wie Sterbelied ins Zimmer drang:
„Nimm meine Seel' in Gnaden auf!
Bald ist geendet mein Lebenslauf.
Behüte die Kinder, beschütze das Weib! —
Nimm, Himmel, die Seele! Nimm, Erde,
den Leib!"
Im Winde verhallet das letzte Wort,
Der Schnee treibt weiter, der Sturm heult fort.
Die Mutter spricht: „Wer mag es sein,
Den so spät man scharret ins Grab hinein?" —
Der Greis saß schweigend da und sann,
Die Kinder schmiegten sich furchtsam an.
Der Vater am Abend nicht kam zuhaus,
Die Kleinen ruhten im Bettlein ans;
Doch kaum ergraute der Mvrgenschein,
Bracht' man eine starre Leiche herein.
R. Marggraff.