Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

432 IV. Abschnitt. Der Mensch im Verkehr mit seinesgleichen. 
Herte (die Schulterblätter) ein breites Lindenblatt, so daß diese Stelle 
vom Blute des Drachen nicht getränkt wurde, mithin verwundbar blieb. 
Kommen nun in dichten Flügen die Kriegsspeere auf ihn angeflogen, so 
könnte doch einer diese Stelle treffen; darum decke du ihn dann, Hagen, 
schütze ihn." — „Wohl," sagt der Tückische, „um das besser zu können, nähet 
mir, königliche Frau, ein Zeichen auf diese Stelle seines Gewandes, damit 
ich genau wisse, wie ich ihn jju schützen habe." Und die Arglose, in zärt¬ 
licher Liebe für den Gatten Verlorene nähet mit eigener Hand aus feiner 
Seide ein Kreuz auf das Gewand ihres Gatten — sie nähet selbst sein 
blutiges Todeszeichen. Tags darauf beginnt der Kriegszug, und Hagen 
reitet nahe heran an Siegfried, um zu sehen, ob die Gattin in ihrer blin¬ 
den, grenzenlosen Liebe arglos genug gewesen sei, das Zeichen einzusetzen. 
Siegfried trägt es wirklich, und nun ist die Heerfahrt nicht weiter nötig; 
Hagen hat aus den Händen der Gattin das, was er will, mehr als er 
erwarten konnte. Die Gefolgsmannschaft wird, statt in den Krieg, zu 
einer großen Jagd entboten; noch einmal sieht hier Siegfried seine treue 
Gattin, sie ihn — zum letztenmal; bange Ahnungen, schwere Träume be¬ 
ängstigen ihre Seele, wie damals, als sie zuerst, in ihrer kann: zur Jung¬ 
frauenblüte emporgekeimten Kindheit, von dem Falken und dem Adler 
träumte: jetzt hat sie zwei Berge auf Siegfried fallen und ihn unter den 
stürzenden Bergestrümmern verschwinden sehen. Siegfried tröstet sie: nie¬ 
mand trage Haß gegen ihn und könne Haß gegen ihn tragen — allen 
habe er gutes erwiesen, in kurzen Tagen komme er wieder. Was sie 
fürchtet, wen sie fürchtet, weiß sie nicht — Hagen glaubt sie gewonnen 
zu haben, den einzigen, vor dem ihr vielleicht bangt — aber sie scheidet 
mit dem Worte: „Daß du von mir scheiden willst, das thut mir innig¬ 
lichen weh." 
Die Jagd ist vollendet, die Helden und vorab Siegfried, der das 
meiste Wild erlegt, sind von dem Rennen in der Sommerhitze müde und 
durstig; doch weder Wein ist mehr vorhanden, noch der Rheinstrom in 
der Nähe, um aus ihm die ersehnte, kühle Labung zu schöpfen. Aber 
Hagen weiß nahe im Walde einen Brunnen, dahin rät er, könne man 
ziehen. Man bricht auf, und schon hat man die breite Linde im Gesichte, 
unter deren Wurzeln der kühle Quell entspringt, da beginnt Hagen: „Man 
hat viel davon gesagt, daß dem schnellen Siegfried, der Kriemhilde Mann, 
niemand folgen könne im eiligen Laufe; wollte er uns das doch sehen 
lassen!" — „Laßt uns," entgegnete Siegfried, „zur Wette laufen nach dem 
Brunnen; ich werde mein Jagdgewand, auch Schwert, Ger und Schild 
behalten, legt ihr die Kleider ab." — Es geschieht, der Wettlauf beginnt; 
wie wilde Panther springen Hagen und Günther durch den Waldklee, 
aber Siegfried ist weit zuerst zur Stelle. Ruhig legt er nun Schwert, 
Bogen und Köcher ab, lehnt den Ger an der Linde Ast und setzt den 
Schild neben den Brunnen, wartend bis der König auch heran gekommen 
sei, um ihn zuerst trinken zu lassen. 
Diese ehrerbietige Sitte entgalt er mit dem Tode. (Leicht konnte er 
getrunken haben, ehe Günther und Hagen herankamen, dann hätte er 
schon wieder da gestanden, die Waffen in der Hand, und was jetzt geschah, 
war unmöglich.) Günther kommt heran und trinkt; nach ihm beugt sich 
auch Siegfried zum Brunnen nieder; da springt Hagen herzu, trägt im
	        
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