Full text: Für Klasse 2 (neuntes Schuljahr) und die Obertertia der Studienanstalten (Teil 8, [Schülerband])

kommen war und von der Himmelsluft sprach, die das verstorbene 
Kindlein jetzt atme. Dann fing er an, sie auf die Pflichten hinzuweisen, 
die sie als Gattin und Mutter denen gegenüber habe, die ihr geblieben 
seien. 
„Io, Herr Pastor, Se hebbn wull recht, awers ik kann, ik kann, 
ik kann ja nrch!" 
Das war ihre einzige Erwiderung. 
Sie konnte nicht aussprechen, was sie empfand. Es war ein so 
trostloses Gefühl von Schwäche in ihr, gerade als ob ihre eiserne Willens¬ 
kraft mit dem Leben des Kindes erloschen sei. Ihr Mann und ihr 
Fiele und das ganze kleine Hauswesen — alles sah sie so leer und tot 
und öde an, was noch vor wenigen Monaten ihr ganzer, glücklicher 
Lebensinhalt gewesen. 
Und nun hatten sie ihren Ernst ganz fortgetragen! 
Fiele saß in seinem durchlöcherten Anzug aus einem niedrigen Holz¬ 
schemel und zerschnippelte rohe Kartoffeln mit einem abgebrochenen 
Küchenmesser. Es sah unordentlich aus in der Stube. Das Bett schlecht 
aufgeschüttelt, die Fensterscheiben fast undurchsichtig. Spinnengewebe 
hingen von der Decke, und auf der runden Kommodenklappe lag so 
dicker Staub, daß er die roten Masern des Föhrenholzes ganz verdeckte. 
Die Tassen oben auf der Platte mit ihren Widmungsinschriften „Der 
guten Mutter", „Dem artigen Kinde" standen verkehrt auf ihren Unter¬ 
sätzen. Eine brütende Henne aus blauem Glas, einst Linens ganzer 
Stolz, stand hart an der Kante und konnte jeden Augenblick das Gleich¬ 
gewicht verlieren und auf der Steindiele zerschmettern. Fiete hatte 
wohl einmal daran hemmgeschoben. Die alte Wanduhr in dem hohen, 
schmalen Holzschranke stand still. Schon seit Monaten war der Zeiger 
auf dem mit weißen und roten Rosen bemalten Zifferblatt nicht weiter¬ 
gerückt. Es war immer Lines Arbeit gewesen, sie aufzuziehen. Ihr 
Mann hatte seine Taschenuhr und dachte nicht daran. 
Gegen abend kam Iensen erst vom Begräbnis zurück. Eigentlich 
hatte er gehofft, eher wieder da sein zu können. Aber der Totengräber 
war nicht zur Stelle gewesen, und nachher hatte auch der Pastor auf 
sich warten lassen. 
Gerade heute war es Peter doppelt schwer geworden, Line sich 
selbst und ihrem Schmerze überlassen zu müssen. Es überraschte ihn 
nicht, sie noch immer in ihrer verzweiflungsvollen Stellung zu finden. 
„Nu kam man up, Line! Kiek, du büst ja sünst so ruhi und ver-
	        
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