Full text: [Band 4 = 4. Klasse, [Schülerband]] (Band 4 = 4. Klasse, [Schülerband])

Ein altgermanisches Stammesgericht 
9 
ältestes Abbild." — „Er ist Wodan geweiht," wiederholte der 
Richter feierlich, „wenn Wodan ihn will! Fragen wir den Gott!" 
Mit Staunen blickten alle, mit leiser Hoffnung der Verurteilte 
zu dem Alten auf, der nun fortfuhr: „Schimpflich und schandvoll 
ist es dem Manne, zu schaukeln zwischen den Zweigen, zwischen 
Himmel und Hügel! Und er war wacker bisher, nur gegen feines 
Kindes Weinen war er zu weich! Nutzlos seinem Volke stirbt er. 
hängt er da hoch am Holze. Wohlan, fragen wir Wodan, ob er 
vielleicht ihm vergibt! Wolltet doch ihr alle wie der Kläger selbst 
zuerst die Tat ungestraft lassen. Das ging nicht an! Dem Hohen 
muß sein Recht dargeboten werden, aber — vielleicht will er es 
nicht nehmen. Ich rate: Fiskulf soll eine Tat wagen, in der er 
zu seines Volkes Heil fällt, unmeidbar fällt, wenn nicht etwa 
Wodan selbst sich seiner erbarmt und ihn rettend davonträgt in 
dem weithin waltenden Mantel!" 
„Sprich, rede! Was darf ich tun?" rief der Mann mit leuch¬ 
tenden Augen, „alles, alles! Gern will ich den Speertod sterben, 
nur nicht den Strang der Schmach!" „Du sollst zuerst vor allen 
andern auf das stolzeste Schiff des Römerführers springen und — 
du verstehst dich ja so gut darauf, die Flamme zu wecken — Feuer 
werfen in seine Segel!" — „Ja, ja! das soll er! Heil dem Her¬ 
zog!" riefen da Tausende. Der Fischer aber sprang hart an den 
Stuhl des Richters, hob beide Hände zu ihm auf und rief: „Dank 
dir, Herzog! Ja, du kennst Wodans wahren Willen! das größte 
Schiss der Römer, das Feldherrnschiff in Arbor — nicht? — 
Wohlan! Ich weiß noch nicht, wie ich an das Schiff gelangen 
werde da drüben, aber ich sterbe, oder ich vollbringt." Da sprach 
der Herzog: „Das ist meine Sorge. Du sollst nicht zu jenem Schiff 
kommen, Wodan wird das Schiff zu dir führen; dann tu, wie ich 
dir sage!" — „Gern! Gern!" Auf einen Wink des Richters trat 
er nun in den Ring der Heergenossen, von denen mancher sich 
nicht scheute, ihm die Hand zu reichen. 
Felix Dahn.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.