Full text: [Band 5 = 5. Klasse, [Schülerband]] (Band 5 = 5. Klasse, [Schülerband])

220 Die sprachlichen Schönheiten im „Liede von der Glocke' 
melodischen Gesanges. Ich erwähne zuerst eine dichterische Rede- 
figur, die Schiller überhaupt gerne gebraucht, die aber gerade in 
diesem Liede von geradezu fesselnder Wirkung ist: die Anwendung 
der „Gegensätze", die nicht bloß dem Verstände als eine passende 
Zusammenstellung erscheint, sondern auch die Phantasie zu 
schwungreicher Höhe versetzt. Ich führe an: „Was in des Dam¬ 
mes tiefer Grube. . . wird zeugen laut." — „Der Wahn ist kurz, 
die Reu' ist lang." — „Die Leidenschaft flieht, ... die Frucht 
muß treiben." — „Wohltätig ist des Feuers Macht, . . . wenn 
sie der Fessel sich entrafft." 
So zieht sich eine Kette blitzender Gegensätze durch das 
Gedicht und weit entfernt, durch die fortgesetzte Anwendung einer 
und derselben Redefigur den Strom der Begeisterung zu hemmen 
und den Flug der Phantasie zu- lähmen, erzeugt dieselbe viel¬ 
mehr eine immer sich steigernde Wirkung der Sprache, dem Da¬ 
hingleiten der Welle gleich, die durch des Windes Kraft einmal 
gebildet, sich forterbt auf dem Wasserspiegel, Welle an Welle 
reihend und das Auge des Beschauers am Ufer erquickend. Und 
wie dieselben Glockentöne der Liebe Glück und Bangigkeit, des 
Herzens Hoffen und Furcht, der Wiege Lächeln und des Sarges 
Todesschlummer, des Friedens Süßigkeit und des Aufruhrs 
Schrecknis begleiten, so läßt Schiller auch aus seinem Liede den 
zaubervollen Wohlklang der Gegensätze ertönen. 
Ebenso reich ist das Gedicht, ebenso glücklich der Sänger 
in der Wahl der Beiwörter, die, so klein sie auch dem leiblichen 
Auge vorkommen mögen, dem geistigen Schauen eine Welt von 
Gedanken erschließen und es dem Gemüte gönnen, die ganze An¬ 
mut und Stärke, die vollste Blüte und Innigkeit der Schillerschen 
Muse zu empfinden. Nirgends sind die Beiwörter ein bloßer 
Schmuck oder aus Rücksicht des Verses erzeugt, sondern sind 
durch die leitende Hand des Künstlers in die Gegenstände gelegt 
und mit demselben vermählt, wie es gerade die Lage des Gedan¬ 
kens und der Empfindung verlangte. Ich frage Sie! Sind Zu¬ 
sammenstellungen, wie „goldener Morgen, züchtige Wange, zarte 
Sehnsucht, süßes Hoffen, goldene Zeit, jungfräulicher Kranz," nicht 
Zeugnisse der Dichternatur, die mit einer ungewöhnlichen Sprach- 
kraft ausgerüstet ist, und sind solche glückliche Wendungen der
	        
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