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Beginnt er seine Geschichte dem Wirte erzählen, der sich
Nicht satt an ihm sehen kann und stets noch was bemerket,
Worin sein vor'ger Herr dem jungen Ritter glich.
Der junge Mann erzählt nach Art der lieben Jugend
Ein wenig breit, wie seine Mutter ihn
Bei Hofe (dem wahren Ort, um Prinzen zu erzieh'n)
Gar fleißig zu guter Lehr' und ritterlicher Tugend
Erzogen, wie schnell der Kindheit lieblicher Traum
Vorüber geflogen und wie, sobald ihm etwas Flaum
Durchs Kinn gestochen, man ihn zu Bordeaux von den Stufen
Des Schlosses mit großem Pomp zum Herzog ausgerufen
Und wie sie drauf mit eitel Lust und Pracht,
Mit Jagen, Turnieren, Banketten, Saus und Brause
Zwei volle Jahre wie einzelne Tage verbracht,
Bis Amory, der Feind von seinem Hause,
Beim Kaiser, dessen Huld sein Vater schon verscherzt,
Ihn hinterrücks gar böslich angeschwärzt
Und wie ihn Karl, zum Schein in allen Gnaden,
Nach Hofe zum Empfang der Lehen vorgeladen;
Wie sein besagter Feind, der listige Baron
Von Hohenblat, mit Charlot, zweitem Sohn
Des großen Karl, dem schlimmsten Fürstenknaben
Im Christentum (als der schon lange Lust gehegt
Zu Hüons Land), es heimlich angelegt
Auf seinem Zuge nach Hof ihm eine Grube zu graben,
Und wie sie eines Morgens früh
Ihm aufgepaßt im Wald bei Montl'hery.
„Mein Bruder,“ fuhr er fort, „der junge Gerard, machte
Mit seinem Falken auf der Hand
Die Reise mit. Aus frohem Unverstand
Entfernt der Knabe sich, da niemand Arges dachte,
Von unserm Trupp, läßt seinen Falken los
Und rennt ihm nach; wir andern alle zogen
Indessen unsern Weg und achteten's nicht groß,
Als Falk' und Knab' aus unserm Blick entflogen.
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Auf einmal dringt ein klägliches Geschrei
In unser Ohr. Wir eilen schnell herbei,
Und siehe da! mein Bruder liegt, vom Pferde
Gestürzt, beschmutzt und blutend auf der Erde.
Ein Edelknecht (von keinem unsrer Schar
Erkannt, wiewohl es Charlot selber war)
Stand im Begriff ihn weidlich abzuwalken
Und seitwärts hielt ein Zwerg mit seinem Falken.