Full text: Litteraturkunde (Fünfter Teil = 9. bezw. 9. und 10. Schuljahr, [Schülerband])

98 
Thür herein, einen Speer tragend, an dessen Schafte Blut herabläuft. Laute 
Wehklage erhebt sich. Als der Speer rings herum getragen ist, verläßt 
der Knappe den Saal. Wieder öffnet sich eine Thür, eine lange Reihe 
schöner Jungfrauen, in Scharlach und Sammet gekleidet, Blumenkränze 
in den Haaren, zieht herein. Sie tragen kostbares Gerät: goldne Leuchter 
mit brennenden Kerzen, zwei Stollen von Elfenbein, eine Tafel von 
durchsichtigem Steine, die vor dem König auf die Stollen niedergesetzt 
wird, zwei silberne Messer, schärfer denn Stahl, die sie auf den Tisch legen. 
Zuletzt kommt eine Jungfrau mit goldner Krone; ihr Antlitz leuchtet, 
man glaubt, es wolle tagen. Auf grüner Seide trägt sie die unschätzbare 
Himmelsgabe, den Gral. Vor ihm werden sechs Gläser mit brennendem 
Balsam getragen. Sie setzt den Gral vor den König und stellt sich in 
die Mitte ihrer Gespielen. An hundert gedeckten Tafeln sitzen die Ritter, 
vier an jeder. Auf kleinen Wagen wird goldenes Geschirr herbeigeführt. 
Hundert Knappen dienen vor dem Gral, jeder versieht eine Tafel; nach 
was sie die Hand bieten von Speise oder Getränk, das spendet der Gral 
in Schüssel und Napf. Am Schluffe des Mahles beschenkt der Wirt den 
Gast mit einem herrlichen Schwerte, das er selbst in gesunden Tagen ge¬ 
führt. Als die Jungfrauen wieder mit dem Gral hinausgehen, sieht 
Parzival durch die Thür auf einem Ruhebette den schönsten alten Mann, 
den er je gesehen; weißer denn Duft ist der Greis (Titurel). Wohl hat 
Parzival das Wunder alles beachtet, doch fragt er nicht; sein Lehrer 
Gurnemanz hat ihn vor unbescheidener Frage gewarnt; noch glaubt er, 
ohne Frage alles zu erfahren. Als er aber morgens nach schweren 
Träumen erwacht, findet er niemand zu seinem Dienste bereit. Auf dem 
Fußteppich liegt seine Rüstung, die er selbst anlegt. An der Treppe steht 
sein Roß angebunden, Schild und Speer dabei. Nirgends ist jemand zu 
sehen noch zu hören. Zerstampft ist das Gras auf dem Burghof. Durch 
das offne Thor reitet Parzival hinaus, schnell wird die Brücke hinter ihm 
aufgezogen und ein Knappe ruft ihm Scheltworte nach. Er verfolgt die 
Spur der Hufschläge, doch sie teilt sich, und bald verliert er sie ganz. Da 
hört er die klagende Stimme einer Frau; es ist Sigune auf der Linde. 
Sie erklärt ihm, was er gesehen und was er versäumt. 
Zweierlei Sorge erfüllt Parzivals Seele, der Wunsch, den Gral 
wieder zu finden, und die Sehnsucht nach Condwiramurs. Eines Morgens, 
als er durch den Wald reitet, ist frischer Schnee gefallen. Ein Falke jagt 
vor ihm eine Schar wilder Gänse auf. Eine ist im Fluge getroffen und 
aus ihrer Wunde fallen drei Blutstropfen auf den Schnee. Wie das 
Blut den Schnee rötet, wie der Schnee das Blut mit Weiße mischt, das 
mahnt den Ritter an die blühende Farbe der Geliebten. „Condwiramurs, 
hier liegt dein Schein," ruft Parzival aus; unverrückt hinschauend, versenkt 
er sich in Gedanken. Mit aufgerichteten: Speere hält er, wie schlafend.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.