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Thür herein, einen Speer tragend, an dessen Schafte Blut herabläuft. Laute
Wehklage erhebt sich. Als der Speer rings herum getragen ist, verläßt
der Knappe den Saal. Wieder öffnet sich eine Thür, eine lange Reihe
schöner Jungfrauen, in Scharlach und Sammet gekleidet, Blumenkränze
in den Haaren, zieht herein. Sie tragen kostbares Gerät: goldne Leuchter
mit brennenden Kerzen, zwei Stollen von Elfenbein, eine Tafel von
durchsichtigem Steine, die vor dem König auf die Stollen niedergesetzt
wird, zwei silberne Messer, schärfer denn Stahl, die sie auf den Tisch legen.
Zuletzt kommt eine Jungfrau mit goldner Krone; ihr Antlitz leuchtet,
man glaubt, es wolle tagen. Auf grüner Seide trägt sie die unschätzbare
Himmelsgabe, den Gral. Vor ihm werden sechs Gläser mit brennendem
Balsam getragen. Sie setzt den Gral vor den König und stellt sich in
die Mitte ihrer Gespielen. An hundert gedeckten Tafeln sitzen die Ritter,
vier an jeder. Auf kleinen Wagen wird goldenes Geschirr herbeigeführt.
Hundert Knappen dienen vor dem Gral, jeder versieht eine Tafel; nach
was sie die Hand bieten von Speise oder Getränk, das spendet der Gral
in Schüssel und Napf. Am Schluffe des Mahles beschenkt der Wirt den
Gast mit einem herrlichen Schwerte, das er selbst in gesunden Tagen ge¬
führt. Als die Jungfrauen wieder mit dem Gral hinausgehen, sieht
Parzival durch die Thür auf einem Ruhebette den schönsten alten Mann,
den er je gesehen; weißer denn Duft ist der Greis (Titurel). Wohl hat
Parzival das Wunder alles beachtet, doch fragt er nicht; sein Lehrer
Gurnemanz hat ihn vor unbescheidener Frage gewarnt; noch glaubt er,
ohne Frage alles zu erfahren. Als er aber morgens nach schweren
Träumen erwacht, findet er niemand zu seinem Dienste bereit. Auf dem
Fußteppich liegt seine Rüstung, die er selbst anlegt. An der Treppe steht
sein Roß angebunden, Schild und Speer dabei. Nirgends ist jemand zu
sehen noch zu hören. Zerstampft ist das Gras auf dem Burghof. Durch
das offne Thor reitet Parzival hinaus, schnell wird die Brücke hinter ihm
aufgezogen und ein Knappe ruft ihm Scheltworte nach. Er verfolgt die
Spur der Hufschläge, doch sie teilt sich, und bald verliert er sie ganz. Da
hört er die klagende Stimme einer Frau; es ist Sigune auf der Linde.
Sie erklärt ihm, was er gesehen und was er versäumt.
Zweierlei Sorge erfüllt Parzivals Seele, der Wunsch, den Gral
wieder zu finden, und die Sehnsucht nach Condwiramurs. Eines Morgens,
als er durch den Wald reitet, ist frischer Schnee gefallen. Ein Falke jagt
vor ihm eine Schar wilder Gänse auf. Eine ist im Fluge getroffen und
aus ihrer Wunde fallen drei Blutstropfen auf den Schnee. Wie das
Blut den Schnee rötet, wie der Schnee das Blut mit Weiße mischt, das
mahnt den Ritter an die blühende Farbe der Geliebten. „Condwiramurs,
hier liegt dein Schein," ruft Parzival aus; unverrückt hinschauend, versenkt
er sich in Gedanken. Mit aufgerichteten: Speere hält er, wie schlafend.