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Wer die Schätze verborgen, es bleibt kein Mörder verhohlen.
Wüßte doch ein und andrer vielleicht im Kreis hier zu sagen,
Wo die Schätze geblieben, und wie man Lampen getötet!"
(Aus dem 10. Gesänge.)
Neuhochdeutsche Zeit
(seit 1500).
16. Das sechzehnte Jahrhundert.
Nach W. Scherer.
Zwei große geistige Bewegungen drückten dem sechzehnten Jahrhundert
ihren Stempel auf: der Humanismus und die Reformation. Der Huma¬
nismus, d. h. die Wiederbelebung des Studiums der Alten, ging von Italien
aus und verbreitete sich in Deutschland schon im fünfzehnten Jahrhundert.
Doch erst im sechzehnten trat seine Wirkung entscheidend hervor, um von
da an bis zum heutigen Tage fortzudauern. Für jene Zeit nun bedeutet
der Humanismus nicht nur eine Neugestaltung der Wissenschaft und Litte¬
ratur, indem er für beide in den griechischen und römischen Klassikern ein
bedeutsames, nicht mehr abzuweisendes Vorbild schuf, sondern auch eine
Umgestaltung des ganzen nationalen Lebens, da das ueu hinzugeführte
Element tiefgehende Änderungen in ihm hervorrufen mußte. Indem aber
das Studium des klassischen Altertums die Grundlage der gelehrten Er¬
ziehung in Deutschland wurde, half es den deutschen Gelehrten- und Be¬
amtenstand schaffen, jene Stände, auf denen der moderne Staat sich ausbaute.
Die Reformation, d. h. die Auflehnung gegen den römisch-katho¬
lischen Glauben und die Begründung des Protestantismus, wirkte
freilich noch viel einschneidender, indem ihr Einfluß nicht auf die höheren
Stände beschränkt blieb, sondern bis in die tiefsten Schichten des Volkes
sich erstreckte. Aber gerade dadurch erwies sie sich der Litteratur zunächst
nicht günstig. Die ganze Masse des Volkes war zu erfüllt von dem
großen Kampfe, als daß die schönen Künste auf Anteil hätten rechnen
können. Alles Interesse verschlang vielmehr die Theologie, und so kam
es, daß die Ausdehnung und Entwickelung, die wir bis zum Beginn der
Reformation wahrnehmen, für die Jahre des Kampfes, d. h. bis zur Mitte
des Jahrhunderts, unterbrochen wurde. Dafür aber trat zur Zeit der
Reformation in ihrem Begründer, in der Person Martin Luthers, ein
Mann auf, der, abgesehen von seiner sonstigen Bedeutung für das Ge¬
schick des deutschen Volkes, gerade der Litteratur im engeren einen hohen
Dienst leisten sollte. Er übertrug dieshebräische und griechische Bibel in
die deutsche Sprache und schuf dadurch ein Werk, durch das im Laufe