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Lied, als ihn der erste Schmerz der Sterblichkeit ergriff, als er Abel er¬
schlagen sah; denn in diesem tiefsten Leide mußte er erkennen, wie über
dem armen sterblichen Leben noch ein höheres sei; es mußte in ihm das
Bewußtsein der göttlichen Natur von neuem erwachen und mit ihm die
Poesie, der Ausfluß der göttlichen Natur. Auch die Inder stellen den
ersten epischen Vers, der gesprochen worden, also überhaupt die älteste
Poesie dar als die unwillkürliche Äußerung eines ichmerzlichen Mitleidens.
Ein heiliger Einsiedler, Walmiki, sieht, wie aus einem Paare von Reihern
der eine getötet wird; da bricht er in Klagen und Verwünschungen aus;
ohne daß er es merkt, ordnen seine Worte sich rhythmisch. Erst da sie
gesprochen sind, fällt es ihm auf; gleich kommt auch Brahma und befiehlt
ihm, in dieser Form ein Epos zu versassen, das erste, älteste aller Ge¬
dichte, Ramayana.
2. amici?.
W. Scherer.
Im Jahre 341 wurde Wulfila oder Ulfilas, wie ihn die Goten
nennen, auf der Synode zu Antiochia zum Bischöfe dieses Volkes ge¬
weiht; sieben Jahre nach seiner Weihe brach Unglück über die junge Ge¬
meinde herein. Die neue Religion schien dem gotischen Könige be¬
denklich; eine blutige Verfolgung begann; Kaiser Konstantins gestattete
den Bedrängten, sich in Mösien, in der Gegend von Nikopolis, unfern
des Hämus, anzusiedeln. Diese Auswanderer wurden die kleinen Goten
genannt. Unter ihnen wirkte Ulfilas bis zu seinem Tode. Er starb 381
in Konstantinopel, wo er sich gerade aufhielt, um die Lehre des Arius zu
verteidigen.
Als er 348 die Verfolgten über die Donau führte, schien er den
Zeitgenossen wie ein zweiter Moses an der Spitze seines Volkes zu
stehen, durch welchen — wie ein Biograph sich ausdrückt — Gott an den
Bekennern seines heiligen eingeborenen Sohnes, um sie aus der Hand
der Barbaren zu befreien, dasselbe gethan habe wie einst, als er durch
Moses sein Volk aus der Hand der Ägypter errettete und durch das rote
Meer hindurchführte. Das Höchste, was das niedergehende Römertum
auf politischem Gebiete gekannt hatte, eignete er sich und seinem Volke
mit einem Schlage zu. Das Höchste, was das niedergehende Römertum
auf geistigem Gebiete kannte, war das Christentum. Was der Besitz
von Italien, von Rom auf politischem Gebiete, das bedeutet der Besitz
der Bibel auf geistigem, auf religiösem. Und das eignet Ulfilas mit
einem Schlage den Westgoten zu.
Er beherrschte drei Sprachen; er predigte griechisch, lateinisch, gotisch,
und diese Sprachgewalt stellte er in den Dienst des würdigsten Zweckes.