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Es ist uns glaublich bezeugt, daß er die ganze Bibel übersetzte. Nur die
Bücher der Könige soll er weggelassen haben, um die kriegerischen Instinkte
seiner Landsleute nicht zu nähren. Er vollbrachte das Werk bei einem
Volke, welchem bis dahin die Anfänge einer geschriebenen Litteratur ge¬
fehlt hatten; er gab einem Volke die Bibel in die Hand, welches bis
dahin nicht einmal wußte, was Lesen sei — „singen" mußte er es über¬
setzen; er schuf eine Schrift, die auf Pergament zu malen war, für ein
Volk, welches bis dahin nur auf Holz und Stein einzelne Zeichen oder
eine Folge weniger Worte geritzt hatte. Er brachte die Schrift zu stände,
indem er die Runen aus dem griechischen Alphabet oder das griechische
Alphabet aus den Runen ergänzte. Er brachte die Übersetzung zu stände,
indem er möglichst wortgetreu den griechischen Text ins Gotische übertrug,
aber doch mit dem äußersten Respekt vor dem heiligen Buch auch die
Achtung vor dem einheimischen Sprachgesetze verband. Die Sprache selbst
kam ihm dabei entgegen, die gotische Syntax stand der griechischen da¬
mals noch näher als etwa die neudeutsche oder selbst die altdeutsche der
gotischen. Ulfilas hatte ohne Zweifel Mitarbeiter; die wenigen erhaltenen
Reste des alten Testamentes zeigen Abweichungen von den Evangelien
und diese wieder von den Resten der paulinischen Briese. Aber sein ist
der Anfang, sein ist das Beispiel, sein ist die Aufsicht, sein das Verdienst.
Fremde Kräfte in den Dienst seiner eignen Gedanken zwingen und dazu
erziehen, ist größer, als die eigne Kraft unnötig verschwenden.
Kein Germane katholischen Bekenntnisses hat etwas Ähnliches wie
er auch nur erstrebt. Unter den Engländern kann sich erst Wycleff, unter
den Deutschen erst Luther mit ihm vergleichen. Ulfilas gab dem gotischen
Volke, seinen Königen, seinem Adel, seinen Seelsorgern und Lehrern,
jedem, der reich genug war, sich ein Buch abschreiben zu lassen, die
Bibel in die Hand.
Das Vaterunser.
Aus Ulfilas' Bibelübersetzung.
Atta unsar thu in himinam, veihnai nanio thein;
Vater unser du in (dem) Himmel, geweihet werde Name dein;
qvimai thiudinassus theins; vairthai vilja theins, sv@ in
(es) komme (die) Herrschaft dein; (es) werde (der) Wille dein, sowie in
himina jah ana airthai; hlaif unsarana thana sinteinan gif uns
(dem) Himmel, auch auf Erden; Brot unseres dies fortwährende gieb uns
himma daga; jah aflet uns, thatei skulans sijaima svasve ja veis
diesen Tag; und erlasse uns, daß schuldige wir seien so wie auch wir
afletam thaim skulam unsaraim; jah ni briggais uns in fraistubnjai,
erlassen diesen Schuldigen unseren; und nicht bringest uns in Versuchung,