Full text: Litteraturkunde (Fünfter Teil = 9. bezw. 9. und 10. Schuljahr, [Schülerband])

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„Tochter und Sohn, willkommen! Ans Herz, willkommen noch einmal! 
Ihr, uns Altenden Freud', in Freud' auch altet und greifet, 
Stets einmütiges Sinns und umwohnt von gedeihenden Kindern! 
Nun mag brechen das Auge, da dich wir gesehen im Amtsrock, 
Sohn, und dich ihm vermählt, du frisch ausblühendes Herzblatt! 
Armes Kind, wie das ganze Gesicht rot glühet vom Ostwind! 
O du Seelengesicht! Denn ich duze dich, weil du es forderst! 
Aber die Stub' ist warm, und gleich soll der Kaffee bereit sein!" 
Ihr um den Nacken die Arme geschmiegt, liebkoste die Tochter: 
„Mutter, ich duze dich auch wie die leibliche, die mich geboren; 
Also geschah's in der Bibel, da Herz und Zunge vereint war: 
Denn du gebarst und erzogst mir den wackeren Sohn Zacharias, 
Der an Wuchs und Gemüt, wie er sagt, nachartet dem Vater. 
Mütterchen, habe mich lieb, ich will auch artiges Kind sein. 
Fröhliches Herz und rotes Gesicht, das hab' ich beständig, 
Auch wenn der Ost nicht weht. Mein Väterchen sagte mir oftmals, 
Klopfend die Wang', ich würde noch krank vor lauter Gesundheit." 
Zetzo sagte der Sohn, sein Weib darstellend der Mutter: 
„Mütterchen, nehmt sie auf Glauben! So zart und schlank, wie sie 
dasteht, 
Ist sie mit Leib und Seele vom edelsten Kerne der Vorwelt. 
Daß sie der Mutter nur nicht das Herz abschwatze des Vaters! 
Komm denn und bring als Gabe den zärtlichsten Kuß zum Geburtstag!" 
Schalkhaft lächelte drob und sprach die treffliche Gattin: 
„Nicht zur Geburtstagsgabe! Was Besseres bring' ich im Koffer 
Unserem Vater zur Lust und dem Mütterchen, ohne dein Wissen!" 
Sprach's und faßte dem Manne die Hand; die führende Mutter 
öffnete leise die Thür und ließ die Kinder hineingehn. 
Aber die junge Frau, voll Lieb' im lächelnden Antlitz, 
Hüpfte voraus und küßte den Greis. Mit verwunderten Augen 
Sah er empor — und hing in der trautesten Kinder Umarmung. 
2. Hektars Abschied von Andromache. 
Aus dem sechsten Gesänge der Ilias. 
Also sprach und enteilte der helmumflatterte Hektar. 
Bald erreicht' er darauf die wohlgebauete Wohnung. 
Doch nicht fand er die schöne Andromache dort in der Kammer; 
Sondern zugleich mit dem Kind und der Dienerin, schönes Gewandes, 
Stand sie annoch auf dem Turm und jammerte, seufzend und weinend. 
Als nun Hektar daheim nicht fand die untadlige Gattin, 
Trat er zur Schwelle hinan und rief den Mägden des Hauses: 
„Auf wohlan, ihr Mägde, verkündiget schnell mir die Wahrheit!
	        
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