Full text: Litteraturkunde (Fünfter Teil = 9. bezw. 9. und 10. Schuljahr, [Schülerband])

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tochter. Sein Sohn soll mehr werden als er. Die Zeit, das Ausland, 
die großen Städte sind für ihn maßgebend. Er und der Apotheker be¬ 
wundern den ersten Kaufmann des Ortes, dem stets das Neueste zu 
Gebote steht, und eifern ihm nach. Diesen dreien, dem Wirt, dem Apo¬ 
theker und dem nicht persönlich auftretenden Kaufmann, stehen der Pfarrer, 
die Mutter und Hermann gegenüber. An dem letzteren hat der Vater 
wenig Freude: er will durchaus nicht höher hinaus. Er ist in der Schule 
nicht gut fortgekommen, er ist nicht gebildet, er ist nicht gewandt, er weiß 
nicht die Cour zu machen, er kleidet sich nicht nach der Mode, er hat keine 
Talente: aber er ist tapfer und liebt die Arbeit, die seinen Körper 
mächtig gestärkt hat; er weiß mit Pferden und dem Ackerbau umzugehen; 
er haßt das Unrecht und schützt die Schwachen; er ist gut und unver¬ 
dorben, voll Tüchtigkeit, aber ohne Selbstvertrauen; schüchtern und zaghaft, 
nicht stürmisch werbend, in der Liebe. Was er begehrt, ist ihm gemäß. Er 
vertritt die ungebrochene Volkskraft der Deutschen: die nationale Begeiste¬ 
rung, der natürliche Trieb der Abwehr gegen die Fremden beseelt ihn; aber 
er will zu Hause nichts anderes, als den ihm angewiesenen Kreis mit hin¬ 
gebender Thätigkeit erfüllen. Auf seiner Seite stehen die Mutter und der 
Pfarrer: dieser, ein gebildeter Mann von offenem Weltblick, der seine 
Umgebung durch überlegene Einsicht beherrscht; jene, eine schlichte Frau, 
die mit kluger Beharrlichkeit die rechte Zeit abwartet und geschickt ihr 
Ziel erreicht. Beide erkennen Hermanns Wert, wenn der Vater ihn 
herabsetzt; beide lesen in seiner Seele und wollen ihn gewähren lassen, 
wo der Vater ihn meistern möchte; beide unterstützen seine Liebe zu Do¬ 
rothea. 
Diese Liebe selbst aber, wie sie auftritt in ihm und dem Mädchen, 
ist die natürliche Erscheinung gegenseitigen Gefallens, worin zugleich 
eine geheimnisvolle, nie zu ergründende Macht, ein Schicksal, liegt. 
So haben sich Hermanns Eltern gefunden, und so finden sich Hermann 
und Dorothea. Rasche Entscheidung ist nötig, denn der Augenblick eilt 
vorüber, und wenn das Mädchen nicht festgehalten wird, entschwindet es 
in den Drangsalen der Zeit dem Liebenden vielleicht auf immer. Trotz 
der Eile, womit Hermann seinen Entschluß faßt und ausführt, regt sich 
in uns kein Zweifel, ob die beiden für einander passen; so tief hat uns 
der Dichter in ihre Seelen blicken lassen! Zwei charaktervolle Wesen reichen 
sich die Hand, zwischen denen kein dauernder Gegensatz auskommen kann: 
sie weiß zu dienen, und er wird nicht schroff gebieten; sie wird achten, 
er wird verehren. Ein mittelalterlicher Dichter könnte sagen: Der stäte 
Mann gewinnt ein stätes Weib. Beide sind bewährt, beide haben sich 
beharrlich zum Guten und sicher im eigenen Lebenskreis erwiesen, sie in 
den Stürmen des Krieges, er im Behagen des Friedens. Aber den 
Kontrast hält Goethe bis zuletzt fest; ja, gerade das Tiefste und 
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