Full text: Litteraturkunde (Fünfter Teil = 9. bezw. 9. und 10. Schuljahr, [Schülerband])

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L 
Die Felsen blieben stumm, die Bäume sagten nichts, 
Die Sterne deuteten mit einem Streifen Lichts. 
Zur Heimat deuten sie: wohl dem, der traut den Sternen; 
Den Weg der Erde kann man nur am Himmel lernen. 
Behalte, was ich hier dir nicht will vorenthalten, 
Vier Lehren, die nicht sind in jedem Ohr enthalten. 
Dir geben einen Halt, im Leben einen Stab 
Der Worte vier: Halt ein! Halt aus! Halt an! Halt ab! 
Halt ein den Zorn, die Gier und jede Leidenschaft; 
Halt aus, was dich betrifft, mit starker Seelenkraft; 
Halt an zum Guten, wen und wo du Macht gewannst; 
Halt ab vom Bösen, wen, vom Übel, was du kannst. 
Behalt und halte dies und ordne dein Verhalten 
Danach; so wirst du dich und wirst die Welt erhallen. 
Die Tage nach dem Tag, wo du gepflanzt den Baum, 
An dem du blühen siehst der Zukunft goldnen Traum, 
Die Tage wünschest du, daß sie geflügelt seien. 
Um nur mit einem Mal zu sehn des Baums Gedeihen. 
Doch geben kann dein Wunsch den Tagen keine Flügel; 
Die starke Hand der Zeit führt sie am festen Zügel. 
Und desto langsamer siehst du dahin sie schreiten, 
Je ungeduldiger du wünschest ihr Entgleiten. 
O, wünsche nichts vorbei und wünsche nichts zurück! 
Nur ruhiges Gefühl der Gegenwart ist Glück. 
Die Zukunft kommt von selbst, beeile nicht die Fahrt! 
Sogleich Vergangenheit ist jede Gegenwart. 
Du aber pflanz' ein Kraut an jedem Tag im Garten, 
So kannst du jeden Tag auch eine Blüt' erwarten. 
Thu, was du kannst, und laß das andre dem, der's kann; 
Zu jedem ganzen Werk gehört ein ganzer Mann. 
Zwo Hälften machen zwar ein Ganzes, aber merk': 
Aus halb und halb gethan entsteht kein ganzes Werk. 
Wer halb und halb gesund, der mag nur krank sich nennen 
Und gar nicht kennen wir, was halb und halb wir kennen. 
Wenn etwas Ganzes würd' aus noch so vielen Halben, 
Ganz gut! es wimmelt jetzt von Halben allenthalben. 
In jeder Halbheit wohnt ein Trieb zur Übertreibung; 
Bei Übertreibung bleibt nicht aus die Unterbleibung. 
Zuwenig und Zuviel ist beides ein Verdruß; 
So fehl ist überm Ziel wie unterm Ziel ein Schuß.
	        
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