I. Lyrische Gedichte. Vaterlandslieder.
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98. Die Dornenkrone.
Es lehnt ein holder Knabe am Knie der Königin,
Er schaut umher und lächelt in kindlich frohem Sinn.
„Sieh dort das schöne Bildnis, der Mann so bleich und mild!"
„Mein Kind, fält deine Hände, das ist des Heilands Bild."
5 „Und sieh, die schöne Krone, die auf der Stirne ruht —"
„Mein Kind, sie ist von Dornen, er trug sie uns zu gut!"
„O schenk mir solche Krone, sag, wird sie jemals mein?"
Der Fürstin trat ins Auge der Tränen lichter Schein.
„Verhüte Gott in Gnaden, daß du sie trägst, mein Kind —
10 Du weißt nicht, wie voll Dornen der Kön'ge Wege sind."
Und als er groß geworden, der edle Zollernsohn,
Da winkt ihm wohl von ferne die goldne Kaiserkron'.
Doch wie nach langern Harren sie seine Hand ersaßt,
Da war's der Dornenkrone unendlich schwere Last.
15 Er hat sie still getragen, so ward sein Wunsch erfüllt,
Ihm ward die Kaiserkrone nach seines Heilands Bild.
Aus dem „Reichsboten".
99» Kaiser Friedrichs letzte Fahrt.
(6. Juni 1888.)
„Ich sehe wohl gern" (er sprach es stumm)
„Noch einmal die Plätze hier herum,
Am liebsten auf Alt-Geltow zu, —
Und ihr kommt mit, die Kinder und du."
5 Das Dorf, es lag im Sonnenschein,
In die stille Kirche tritt er ein;
Die Wände weiß, die Fenster blank,
Zu beiden Seiten nur Bank an Bank,
Und auf der letzten — er blickt empor
10 Auf Orgel und auf Orgelchor
Und wendet sich und spricht: „Wie gern
Vernahm' ich noch einmal ,Lobe den Herrn';
Den Lehrer im Feld, ich mag ihn nicht stören,
Vicky, laß du das Lied mich hören."
15 Und durch die Kirche, klein und kahl,
Als sprächen die Himmel, erbraust der Choral ;
Und wie die Töne sein Herz bewegen.
Eine Lichtgestalt tritt ihm entgegen,
Eine Lichtgestalt, an den Händen beiden
20 Erkennt er die Male: „Dein Los war Leiden,
Du lerntest dulden und entsagen,
Drum sollst du die Krone des Lebens tragen.