Full text: [Teil 4 = Tertia, [Schülerband]] (Teil 4 = Tertia, [Schülerband])

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ihnen auch diese Bequemlichkeit nicht mehr. Aber in allen Leiden war 
es ihnen ein Trost, daß sie miteinander arbeiten und klagen durften. 
Eines Tages um Mittag, da die See ganz still und glatt dalag, 
kam ein Schwan herangeschwommen zu den waschenden Jungfrauen, wie 
wenn er ihnen Botschaft zu bringen habe. Die Jungfrauen betrachteten 
mit Staunen den schönen Vogel, der nahe bis zu ihnen heranschwamm, 
dann aber anhielt und die edle Rundung des Halses erhob, als ob er 
sprechen wollte. 
Ängstlich schmiegte sich Hildeburg an Gudrun und flüsterte ihr leise 
zu: „Das ist nicht ein Schwan, Gudrun; es ist eine von Wodans 
Walküren*), welche diese Vogelgestalt angenommen hat. Frage sie, Gudrun, 
nach den Lieben daheim, und ob wir Erlösung zu hoffen haben." Die 
Königstochter blickte scheu nach dem Vogel, dann aber faßte sie Mut 
und sprach laut, wenn auch mit Beklemmung: „Sage mir, du schöner 
Vogel, lebt meine Mutter Hilde noch und rüstet sie noch nicht ein Heer 
zu unserer Befreiung? Der Schwan erhob seine weißen Flügel ein wenig 
und senkte dreimal mit nickendem Gruß den Kopf bis an die Wasser¬ 
fläche. Mit leuchtendem Blick sahen die Maide einander an; Hildeburg 
flüsterte: „Frage mehr." Und Gudrun sprach mit entschlossenem Mute: 
„Lebt noch König Ortwin, mein Bruder, und mein Verlobter, der König 
Herwig?" Wiederum bejahte der Schwan, dreimal den Kopf neigend. 
Und lebt noch der edle Horand von Dänemark und sein Gefährte Frute 
und der kühne Wate von Sturmland?" Zum dritten Male senkte der 
Schwan den schönen Hals; dann aber schwamm er still wieder hinaus 
in die unendliche See. Die Jungfrauen schauten ihm nach, bis er ihren 
Blicken entschwand. Weinend schloffen sie einander in die Arme: es war 
ihnen so froh zu Mute und doch wieder so schwer, wenn sie der Lieben 
und der Heimat gedachten. 
Viel sprachen sie heute von Hilden und ihren Helden. Als es zu 
dämmern begann, kehrten sie in die Burg zurück, aber die Tagesarbeit 
war nur halb gethan. Da begann die böse Gerlinde zu schelten: „Wer 
gab's euch denn ein, so träge meine Kleider zu waschen? Seid nicht 
zu säumig, daß ihr nicht noch weinen müßt." Gudrun schwieg, aber 
Hildeburg erwiderte demütig: „Wir thun, was wir vermögen." Dann 
gingen beide in ihr Gemach und streckten sich auf die harten Bretter 
zur Ruhe; aber vor Freuden konnten sie nicht schlafen, sie mußten immer 
wieder der Weissagung des schönen Schwans gedenken, und wann wohl 
die ersehnten Retter kämen. 
Frühmorgens, da der Tag graute, trat Hildeburg aus der Kammer, 
*) Die Walküren sind halbgöttliche Schlachtjungfrauen, die nach dem Glau¬ 
ben der alten Deutschen der Gott Wodan entsendet, um die im Kampfe gefallenen 
Helden aufzunehmen und nach Walhalla zu geleiten.
	        
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