Full text: [Teil 4 = Tertia, [Schülerband]] (Teil 4 = Tertia, [Schülerband])

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war die Sterbekerze. Und jetzt, da des Hauses ältester Bewohner, der 
ehrliche Ruf, gestorben war, jetzt brannte sie wieder. 
Das Weib kniete vor dem Lichte nieder und betete zum Jesuskinde. 
Sie betete nicht in wilder Leidenschaft, wie die vornehme Frau, sie 
betete mit Ergebung: „Ich lege, du heiliges Kind, mein Anliegen in 
deine Hände. Böses kann er nicht gethan haben; es ist ja meine täg¬ 
liche Bitte, daß ihn sein Schutzengel nicht sollte verlassen. Aber mit 
gebundenen Händen! Hätte er denn doch gewildert, um dir zu Ehre, 
du heiliger Christ, einen Festbraten heimzubringen? Armut und Sorge, 
o Gott, wie gern ertrag' ich's, nur nicht Schand' und Schmach!" 
„Jetzt sind sie draußen," flüsterte das Magdale plötzlich. Und wahr¬ 
haftig, es war nicht das Klopfen des Windes, — das war ein Pochen 
an der Thür. Sogleich erfaßte das Weib die Kerze und eilte zu öffnen. 
Ein fremder Knabe stand vor ihr, ein seltsamer Knabe; er hatte 
eine leuchtende Brust. Die Kleider waren voll Schnee, die langen Locken 
voll Eis, die großen Augen voll Wasser; vor Frost zitterte er und bat 
um Obdach. 
„Ist denn kein Mensch bei dir? rief das Weib; bist du allein? 
So komm, so komm nur!" Und sie fächelte den Schnee von seinen 
Kleidern, aber die Brust blieb leuchtend; sie trocknete seine Augen, da 
glänzten sie wie Karfunkel. „Du liebes Christkind, lispelte das Mädchen, 
da setz dich zum Ofen und wärme dich." Und immer wieder fragte das 
Weib, wo er herkäme, wer er wäre. Sie faltete dabei die Hände. 
„Ich bin Theobald Gallheim, antwortete endlich der Knabe. Ich 
bin ausgeritten; da sind Wildhühner aufgeflogen, das Pferd ist scheu 
geworden und hat mich abgeworfen. Ich bin herumgelaufen, bis es 
finster geworden ist. Dann ist der Wind und der Schnee gekommen, 
* und ich habe gar nichts mehr gehört und gesehen und bin gefallen. 
Bin doch wieder weiter gegangen, und dann habe ich das Licht gesehen. 
Laßt mich liegen in eurem Hause und thut mir nichts Böses! Mein 
Vater wird schon kommen!" 
Das Fieber schüttelte ihn, als er das sprach. Das Weib hatte 
Mühe, ihm die Schuhe von den Füßen zu bringen; sie waren schier 
angefroren. Der Knabe ächzte vor Schmerz; die Pecherin legte ihm 
feuchtes Grubenkraut auf Hände und Füße, dann brachte sie eine warme 
Suppe und führte den Löffel selbst zu seinem Munde. Das Magdale 
schlich spähend um den Knaben herum, schaute seine zarten Locken und 
seine frischen Wangen an und seine harnischglänzende Brust und seine 
Augen. „Du armes Christkind, ist es doch richtig wahr, daß du so viel 
Kälte leiden mußt!" Das Weib trug von allen drei Betten, die in der 
Stube standen, die Kiffen zusammen und baute damit auf der Ofen¬ 
bank dem kleinen Gaste ein Lager- Theobald legte sich hin und schloß 
bald die Augen. 
Lesebuch für Realschulen. IV. 16
	        
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