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Papier zu Ende denken kannst. Den einen Gedanken durchkreuzt der
zweite, den zweiten ein dritter, ein vierter und diese vier ineinander ge¬
schachtelten, einander unterbrechenden Gedanken stopfest du in einen einzigen
Latz von 15 gedruckten Zeilen, bildest dir wohl gar auf deine kunstvollen
60 Latzgebäude wunder was ein: dein Geschreibsel ist nichtig, weil zwecklos,
denn bei den letzten fünf Zeilen hat der Leser die ersten zehn vergessen.
— Oder endlich, du bist wirklich ein Meister des Stils, du beherrschest
die innere Form, d. h. du findest den treffendsten Uusdruck für deinen
wertvollen Gedankeninhalt, müßtest also den Zweck deines Schreibens
es restlos erfüllen: du verfehlst dennoch deine Wirkung, gerade auf die
feinsinnigsten unter deinen Lesern, durch einen peinlichen Erdenrest: du
bist unsicher, ja ungebildet in der Grammatik der von dir geschriebenen
Sprache.
Ich sehe das erstaunte Gesicht manches Lesers und höre seine Frage:
70 Du sprichst ja immerfort vom Leser, beinah so viel wie vom Lchreiber,'
der Stil hat es doch mit dem Schreiben, nicht mit dem Lesen zu tun.
Mit Verlaub, alles Schreiben, vielleicht mit Ausnahme der Tagebücher,
ist eine zweiseitige Tätigkeit: man schreibt nicht für sich, sondern für einen
andern, für einen Leser, für ungezählte, unbekannte Leser.
75 Sorgsame Rücksicht auf den Leser ist eine der Urbedingungen des
guten Ltils. Sie ist in dem Grundgesetz der Zweckmäßigkeit mitenthalten
und keine Untersuchung des Stils eines Schriftstellers ist erschöpfend ohne
eine Untwort auf die Frage: wie behandelt der Schriftsteller seine Leser?
„Der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen, so ist erst der Leser
80 das ganze Leben des Geschriebenen" (Gottfried Keller).
Eduard Engel.
Deutsche Stilkunst. Leipzig, Zreqtag. 1911. §. iS.
33. vom Lesen.
Gleichviel, wie gelesen wird: wenig oder reichlich, mit oder ohne
Merkbuch, laut oder für sich, allein oder in Gesellschaft, wenn nur über¬
haupt ernsthaft gelesen wird. Das wichtigste und oberste dabei bleibt
immer, daß man mit einer bestimmten Ubsicht liest, wir alle stecken
5 viel zu tief in der Meinung, Hauptzweck des Lesens sei Erholung, Zer¬
streuung, Unterhaltung. Nichts könnte, so allgemein gesprochen, weniger
wahr sein als dies. Lesen ist vielmehr das wichtigste Werkzeug der Selbst*
Kultur, wir sind gewohnt neben unserer beschränkteren Lebensaufgabe
noch verschiedenes zu treiben, Künste und Fertigkeiten, wie man das
nennt,' vergessen wir nur nicht, daß allen weit voran das Lesen gepflegt
werden muß. Und wenn wir uns erziehen durch Lesen, so ist es auch
andererseits notwendig, daß wir uns zum Lesen erziehen. Denn Lesen
ist eine Kunst wie andere.
Sie besteht darin, daß man aus jedem Buche holt, was es enthält,
sich der Gedanken wirklich bemächtigt, die darin vorgetragen werden,
Hauptsachen und Nebendinge unterscheidet, die Beziehung zwischen Inhalt