Metadata: Zunächst für die unteren und mittleren Klassen der Gymnasien, mit Rücksicht auf schriftliche Arbeiten der Schüler (Theil 1, [Schülerband])

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98. Der Persische Knabe und die Räuber. 
Der Anblick der Tugend bekehrt den Bösewicht. 
Als ich noch ein Knabe war, so erzählt der Persische Dichter 
Abdlll Kaadir aus Ghilan, hatte ich einen Traum, der mich 
bewog, meine Mutter zu bitten, mir eine Reise nach Bagdad zu 
erlauben, wo ich mein Leben Gott widmen tvollte. Nachdem ich ihr 
erzählt hatte, was ich in jenem Traume gesehen, weinte sie, zog 
achtzig Dinare hervor und sagte, nur die Hälfte des Geldes wäre 
nrein ganzes Erbtheil, da ich noch einen Bruder hätte. Ich mußte 
ihr, als sie es mir gab, mit einem Eide versprechen, nienrals eine 
Lüge zu sagen. Dann umarmte sie nüch und sagte: „Gehe hin, 
nrein Sohn; ich übergebe dich Gottes Schutze. Wir werden uns nicht 
wiedersehen, als aur Tage des Gerichtes." 
Ich ging nrunter voran und kam in die Nähe von Hamadan, 
wo unser Zug vor: sechszig Räubern geplündert wurde. Einer 
derselben fragte mich, was ich bei mir hätte. „Vierzig Dinare," sagte 
ich, „sind in meine Kleider genäht." Der Räuber lachte und meinte 
-ohne Zweifel, ich wollte Scherz mit ihm treiben. „Was hast du bei 
dir?" fragte ein zweiter. Ich gab ihm dieselbe Antwort. Als sie die 
Beute theilten, rief man mies; auf eine Anhöhe, wo der Anführer- 
stand. „Was ist dein Eigenthunr, kleiner Mensch?" hub er an. — 
„Es haben schon zwei deiner Leute von mir gehört," sagte ich, 
„daß vierzig Dinare in meine Kleider genäht sind." Er ließ meine 
Kleider auftrennen und fand mein Geld. „Aber tvie kamst du dazu," 
fragte er befremdet, „so offenherzig anzugeben, was du so leicht 
hättest verborgen halten können?" — „Weil ich meiner Mutter 
Wort halten will," gab ich zur Antwort; „ich habe ihr versprochen, 
nie eine Lüge zu sagen." — „Kind," sprach darauf der Räuber, 
„feit fühlest schon in deinem Alter so lebendig die Pflicht gegen deine 
Mutter, und ich fühle in meinen Jahren noch nicht, welche Pflicht 
ich gegen meinen Gott habe? Gib mir deine Hand, unschuldiger 
■ Knabe; auf deine Hand will ich Treue geloben!" 
Er that es. Seine Geführten standen lange betroffen und 
schweigend. Dann aber sprachen sie zu ihrem Hauptmanne: „Du 
bist unser Anführer auf der Bahn des Verbrechens gewesen; sei es 
nun auch auf dein Pfade der Tugend!" Alle schwuren Treue auf 
meine Hand und eilten, nach Befehl des Anführers, ihren Raub 
zurück zu erstatten. Heinrich Campe. 
99. Der verlorene Sohn. 
Werth der Bekehrung. 
Ein Vater hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zum 
Vater: „Gib mir den Theil der Erbschaft, welcher mir zukommt!" 
Und der Vater theilte sein Vermögen unter die beiden Söhne. Rack- 
wenigen Tagen nahm der jüngere all das Seine zusamnren und
	        
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