Full text: Unterstufe (Dritter Teil = Vierte Klasse)

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der Friesen seine Heimstätten aufgeschlagen hatte. Damals mußte nämlich 
jeder zehnte Mann aus dem vom Wasser verheerten Friesenlande aus¬ 
ziehen, und nach langem Suchen wühlten diese heimatlosen Wanderer in 
den Schweizerbergen ihren dauernden Wohnsitz, rodeten den Wald aus 
und bekämpften die wilden Tiere. Aber selbst im Grabe noch können sie 
ihre alte Heimat nicht vergessen; von Zeit zu Zeit steigen sie aus den 
grauen Grüften empor, scharen sich zusammen und ziehen auf ebendem 
Wege, den sie bei ihrer Einwanderung beschritten hatten, hinunter an die 
Ufer der Nordsee. Im Sturmesflug kehren sie noch in der nämlichen 
Nacht zurück, sobald das Rauschen der Meereswogen an ihr Geisterohr 
geklungen. Dann legen sich die Helden wieder still und zufrieden in ihre 
Jahrhunderte alte Ruhestatt, bis es, nach vielen Monaten oder gar Jahren 
vielleicht, in den Lüften wieder urplötzlich zu krachen und zu tosen beginnt; 
wieder klingt dann geheimnisvoll der dumpfe Ruf der Kriegshörner, und 
wieder raffen sich die schlummernden Geister auf, um in gedankenraschem 
Fluge den unvergeßlichen Boden heimzusuchen. 
Dieser Friesenzug hat noch keinem etwas zuleide getan, der ihn un¬ 
behindert seines Wegs gehen ließ; aber von diesem Wege selbst weichen 
die von Heimweh getriebenen Helden weder nach rechts noch nach links 
auch nur um eines Fingers Breite ab, und so hat er denn seit unvor¬ 
denklichen Zeiten genau die nämliche Richtung und Größe. Es darf des¬ 
wegen kein Hans aus dem „Friesenweg" gebaut werden, sonst wird es 
beim nächsten Zuge entweder auseinandergerissen oder wie von einer Lawine 
hinweggefegt. Übrigens kennt man diesen unveränderten und unveränder¬ 
lichen Weg wohl, und es gibt im Saanenlande genug alte Leute, die dem 
Unkundigen genauen Bescheid über denselben zu erteilen imstande sind. 
Trotzdem war einst auf einer Alpe der Melkstall einer Sennhütte 
aus Unbedachtsamkeit mitten auf den Friesenweg gebaut, die Türen aber 
durch gliicklichen Zufall gerade da angebracht worden, wo der Friesenweg 
ein- und ausmündete. Wenn daher abends das Vieh gemolken und, wie 
es in den Alpen Sitte ist, wieder aus dem Stall ausgetrieben war, so 
brauchte man nur die Türen sperrangelweit offen zu lassen; und sooft 
auch der Friesenzug durch das Gebäude brauste, so wurde es doch nie 
beschädigt, noch einem der Bewohner ein Leid zugefügt. 
Einst aber ergriff den Besitzer dieser Alpe die Sehnsucht nach den 
Seinigen, und er beschloß, Weib und Kind drunten im Tale aufzusuchen; 
vorher aber nahm er noch den Meisterknecht (so heißt in den Schweizer 
Alpen der Oberknecht) ans die Seite und legte ihm ernstlich ans Herz, ja 
die Türen des Stalles während der Nacht nicht zu schließen, damit die 
Friesen ungehindert ihres Wegs ziehen könnten, wenn sie etwa die Heimat 
wieder aufsuchen sollten. Kaum hatte er sich entfernt, so verlachte der 
Meisterknecht die wohlgemeinten Ratschläge und wurde mit den andern 
Knechten einig, den Friesen den Weg zu verlegen. Sie verriegelten die
	        
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