62
der Friesen seine Heimstätten aufgeschlagen hatte. Damals mußte nämlich
jeder zehnte Mann aus dem vom Wasser verheerten Friesenlande aus¬
ziehen, und nach langem Suchen wühlten diese heimatlosen Wanderer in
den Schweizerbergen ihren dauernden Wohnsitz, rodeten den Wald aus
und bekämpften die wilden Tiere. Aber selbst im Grabe noch können sie
ihre alte Heimat nicht vergessen; von Zeit zu Zeit steigen sie aus den
grauen Grüften empor, scharen sich zusammen und ziehen auf ebendem
Wege, den sie bei ihrer Einwanderung beschritten hatten, hinunter an die
Ufer der Nordsee. Im Sturmesflug kehren sie noch in der nämlichen
Nacht zurück, sobald das Rauschen der Meereswogen an ihr Geisterohr
geklungen. Dann legen sich die Helden wieder still und zufrieden in ihre
Jahrhunderte alte Ruhestatt, bis es, nach vielen Monaten oder gar Jahren
vielleicht, in den Lüften wieder urplötzlich zu krachen und zu tosen beginnt;
wieder klingt dann geheimnisvoll der dumpfe Ruf der Kriegshörner, und
wieder raffen sich die schlummernden Geister auf, um in gedankenraschem
Fluge den unvergeßlichen Boden heimzusuchen.
Dieser Friesenzug hat noch keinem etwas zuleide getan, der ihn un¬
behindert seines Wegs gehen ließ; aber von diesem Wege selbst weichen
die von Heimweh getriebenen Helden weder nach rechts noch nach links
auch nur um eines Fingers Breite ab, und so hat er denn seit unvor¬
denklichen Zeiten genau die nämliche Richtung und Größe. Es darf des¬
wegen kein Hans aus dem „Friesenweg" gebaut werden, sonst wird es
beim nächsten Zuge entweder auseinandergerissen oder wie von einer Lawine
hinweggefegt. Übrigens kennt man diesen unveränderten und unveränder¬
lichen Weg wohl, und es gibt im Saanenlande genug alte Leute, die dem
Unkundigen genauen Bescheid über denselben zu erteilen imstande sind.
Trotzdem war einst auf einer Alpe der Melkstall einer Sennhütte
aus Unbedachtsamkeit mitten auf den Friesenweg gebaut, die Türen aber
durch gliicklichen Zufall gerade da angebracht worden, wo der Friesenweg
ein- und ausmündete. Wenn daher abends das Vieh gemolken und, wie
es in den Alpen Sitte ist, wieder aus dem Stall ausgetrieben war, so
brauchte man nur die Türen sperrangelweit offen zu lassen; und sooft
auch der Friesenzug durch das Gebäude brauste, so wurde es doch nie
beschädigt, noch einem der Bewohner ein Leid zugefügt.
Einst aber ergriff den Besitzer dieser Alpe die Sehnsucht nach den
Seinigen, und er beschloß, Weib und Kind drunten im Tale aufzusuchen;
vorher aber nahm er noch den Meisterknecht (so heißt in den Schweizer
Alpen der Oberknecht) ans die Seite und legte ihm ernstlich ans Herz, ja
die Türen des Stalles während der Nacht nicht zu schließen, damit die
Friesen ungehindert ihres Wegs ziehen könnten, wenn sie etwa die Heimat
wieder aufsuchen sollten. Kaum hatte er sich entfernt, so verlachte der
Meisterknecht die wohlgemeinten Ratschläge und wurde mit den andern
Knechten einig, den Friesen den Weg zu verlegen. Sie verriegelten die