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Wolfgang Müller, Der Mönch von Heisterbach.
Einst leitet' ihn sein Anätze in ein Tal,
das übersät war mit gewalt'gen Steinen.
Leichtsinnig mehr als boshaft sprach der Knabe:
„Ehrwürd'ger Vater, viele Menschen sind 10
versammelt hier und harren auf die Predigt."
Der blinde Greis erhob sich allsobald,
wählt' einen Tert, erklärt' ihn, wandt' ihn an,
ermahnte, warnte, strafte, tröstete
so herzlich, daß die Tränen mildiglich
ihm niederflossen in den grauen Bart.
Als er beschließend draus das Vaterunser,
wie sich's geziemt, gebetet und gesprochen:
„Dein ist das Reich und dein die Kraft und dein
die Herrlichkeit bis in die Ewigkeiten" — 20
da riefen rings im Tal viel tausend Stimmen:
„Amen, ehrwürd'ger Vater! Amen, Amen!"
Der Knab' erschrak; reumütig kniet' er nieder
und beichtete dem Heiligen die Sünde.
„Sohn", sprach der Greis, „hast du denn nicht gelesen:
wenn Menschen schweigen, werden Steine schrein?
Nicht spotte künftig, Sohn, mit Gottes Wort!
Lebendig ist es, kräftig, schneidet scharf
wie kein zweischneidig Schwert. Und sollte gleich
das Menschenherz sich ihm zu Trotz versteinen, 30
so wird im Stein ein Menschenherz sich regen."
Ludwig Kosegarten.
28. Der Mönch von Helsterbach.
1. Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach
lustwandelt an des Gartens fernstem Ort;
der Ewigkeit sinnt tief und still er nach
und forscht dabei in Gottes heilgem Wort.
2. Er liest, was Petrus, der Apostel, sprach:
„Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr,
und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag"; —
doch wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar.
3. Und er verliert sich zweifelnd in den Wald;
was um ihn vorgeht, hört und sieht er nicht; —
erst wie die fromme Vesperglocke schallt,
gemahnt es ihn der strengen Klosterpflicht.