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Johann Heinrich Voß, Der siebzigste Geburtstag.
„Mutter, es kommt wie ein Schlitten; ich weiß nicht sicher, doch
glaubt ich!"
Also Marie. Da verlor die erschrockene Mutter den Löffel;
unter ihr bebten die àie, und sie lief mit klopfendem Herzen
atemlos; ihr entflog im hastigen Lauf der Pantoffel.
Jene lief zu der Pfort' und öffnete. Näher und näher
kam das Gekling und das Klatschen der Peitsch und der Pferde Getrampel
nun, nun lenkten herein die mutigen Ross' in den Hofraum,
blank geschirrt; und der Schlitten mit halb schon offnem Verdeckstuhl
hielt an der Tür, und es schnoben, beschneit und dampfend, die Renner.
Mütterchen rief: „Willkommen daher! Willkommen, ihr Kindlein!
Lebt ihr auch noch?" und reichte die Händ in den schönen Verdeckstuhl,
„lebt in dem grimmigen Ost mein Töchterchen?" Dann für sich selber
nur zu sorgen ermahnt : „Laßt, Kinderchen !" sprach sie, „dem Sturmwind
wehret das Haus; ich bin ja vom eisernen Kerne der Vorwelt!
Stets war unser Geschlecht steinalt und Verächter des Wetters;
aber die jüngere Welt ist zart und scheuet die Zugluft."
Sprach's, und den Sohn, der dem Schlitten entsprang, umarmte
sie eilig,
hüllte das Töchterchen dann aus bärenzottigem Fußsack
und liebkosete viel mit Kuß und bedauerndem Streicheln,
zog dann beid, in der Linken den Sohn, in der Rechten die Tochter, 190
rasch in das Haus, dem Gesinde des Fahrzeugs Sorge vertrauend.
„Aber wo bleibt mein Vater? Er ist doch gesund am Geburtstag?"
fragte der Sohn. Schnell tuschte mit winkendem Haupte die Mutter:
„Still! Das Väterchen hält noch Mittagsschlummer im Lehnstuhl;
laß mit kindlichem Kuß dein junges Gemahl ihn erwecken;
dann wird wahr, daß Gott im Schlafe die Seinigen segnet!"
Sprach's und führte sie leis in der Schule gesäubertes Zimmer,
voll von Tisch und Gestühl, Schreibzeug und bezifferten Tafeln,
wo sie an Pflöck aufhängte die nordische Wintervermummung,
Mäntel, mit Flocken geweißt, und der Tochter bewunderten Leibpelz, 200
auch den Flor, der die Wangen geschirmt, und das seidene Halstuch.
Und sie umschloß die Enthüllten mit strömender Träne der Inbrunst:
„Tochter und Sohn willkommen! Ans Herz willkommen noch einmal!
Ihr, uns Altenden Freud, in Freud auch altet und greifet,
stets einmütigen Sinns und umwohnt von gedeihenden Kindern!
Nun mag brechen das Auge, da dich wir gesehen im Amtsrock,
Sohn, und dich ihm vermählt, du frisch aufblühendes Herzblatt!
Armes Kind, wie das ganze Gesicht rot glühet vom Ostwind!
O du Seelengesicht! Denn ich duze dich, weil du es forderst.
Aber die Stub ist warm, und gleich soll der Kaffee bereit sein." 210