Full text: Für Klasse V der höheren Knabenschulen, Klasse VIII der höheren Mädchenschulen (Band 6, [Schülerband])

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Ungeduld dem bewußten Holzschragen zu, besorgt, ob dort die 
Dinge gegen den Schnee wohl gut verwahrt seien. 
45 4. Und so sehe ich dich im Geiste noch heute stehen, du lieber 
Mann aus Kindberg mit deinem weiten Lodenmantel und deinem 
grünen Steirerhute — hast noch einen Fetzen davon, so schenke ihn 
mir; du glaubst es nicht, wie du mir noch teuer bist aus jener 
Zeit, da du in den Reihen der anderen Krämer dastandest und 
50 zwischen dem Pelzkragen deines Mantels und deinem blonden 
Schnurrbarte gemächlich den Rauch der Zigarre heroorbliesest und 
so auf deinen Stand hinschmunzeltest, auf welchem die Güter aus¬ 
gebreitet lagen. Ich konnte damals nur nicht begreifen, wie du 
die Schätze gegen eitel Geld hinzugeben vermochtest; aber mir kam 
55 dieser dein Leichtsinn gut zustatten, so weit mein Eiweiß und 
Dotter reichte. 
5. Bücher! Bücher hatte der merkwürdige Mann. Aber nicht 
Bücher mit vergilbten Blättern und verschimmeltem Schweinsleder¬ 
einband ; ganz neue Bücher hatte mein merkwürdiger Mann. Sonst 
60 war mir fast gewesen, Bücher stammten alle aus alter Zeit, Bücher 
mache man heutzutage gar nicht mehr. Und hier sah ich Bücher, 
deren Blätter so weiß waren wie der Schnee, der darauf fiel, mit 
schönen Bildern irdischer Dinge und mit einem Drucke, der so glatt 
und scharf war wie feinster Streusand. Diese Eigenschaften hatten 
65 vor allem die „Volkskalender". Der Kalender war daran das 
wenigste, diesem aber folgten Geschichten, Lieder, Weltbeschreibungen 
und possierliche Späße, daß es schon eine Freude war. 
6. Anfangs starrte ich immer nur so von weitem darauf hin, 
lange aber ließen sich die Finger nicht zurückhalten, obwohl der 
70 Mann im Lodenmantel einigen Zweifel in die Zahlungsfähigkeit 
des kleinen Knirpses zu setzen schien. „So ein Büchel da — was 
es denn kostet?" „Das da? Das kostet sechsunddreißig Kreuzer." 
Und ganz ging er dran und drauf, der Inhalt meines hölzernen 
Eies. Hingegen war der Volkskalender mein Eigentum. Ich 
75 konnte mir an diesem Tage keine Semmel kaufen, denn das Ei 
war erschöpft, und ich hatte wahrlich auch keinen Hunger; Herz, 
Seele und Magen klammerten sich an das Buch, das ich im 
Sacke trug. 
7. Von Anfang bis zu Ende las ich das Buch, las im Kalender
	        
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