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Dämon des Niesengebirges, eine auch andernorts berühmte, volkstüm¬
liche Gestalt geworden, ein Geist, der die Guten belohnt und die Bösen
bestraft, also gleichzeitig ein Erzeugnis deutschen Gerechtigkeitssinnes.
Fluch in den Wäldern schalten und walten Dämonen. Weibliche Wesen
sind es zumeist, Holzweibel, Waldsräulein, Moosleute, in Tirol Salige
oder Saligfräulein, auch Fengen genannt. Ihren Leib denkt sich die
Volksphantasie ihrer Heimat entsprechend: sie haben einen behaarten
Körper, ein altes, runzeliges Gesicht und sind fast ganz in Moos ge¬
hüllt. In Gberdeutschland erscheinen sie mehr als Dämonen in über¬
menschlicher Gestalt, die dem Menschen zu schaden suchen, in Mittel¬
und Norddeutschland dagegen sind es mehr zwerghafte Wesen, die dem
Menschen freundlich gesinnt sind und ihn bei seinen Arbeiten im Walde
unterstützen. Ls ist eigentümlich, wie gerade auf diese mythischen
Wesen die Natur der Gegend in den einzelnen deutschen Gauen ver¬
schieden eingewirkt hat: die mächtigen Berge des Südens mit ihren
uralten Stämmen haben riesische Gebilde erzeugt, während in der Ebene
und besonders in der Hügellandschaft dasselbe Wesen fast rein mensch¬
liche Formen angenommen hat.
Den Waldfrauen ähnlich erscheinen auch die Korndämonen.
Wenn der Wind das Getreide bewegt, daß es auf- und niederschwankt,
dann treibt allerorten in Deutschland ein Dämon in ihm sein Wesen.
Bald ist es ein Weib, das durch das Getreidefeld zieht, das Kornweib,
die Kornmutter, NoggenmuLter, Noggenmuhme, auch Großmutter ge¬
nannt, bald ist es ein Tier, der Noggenwolf, die Noggensau, der
Noggenhund, der haserbock, die Kornkatze. Der Geist wohnt im Ge¬
treide selbst. Wird dies geschnitten, so hüpft er von einem Halme zum
andern, um den Schnittern zu entrinnen, bis er in dem letzten gefangen
genommen wird. Dann ist sein Schicksal besiegelt' in einigen Gegenden
wird er getötet, in anderen dagegen zunächst feierlichst mit der letzten
Garbe heimgeführt. In letzterem Falle wird der Garbe die Gestalt einer
Puppe gegeben,' der Fuhrmann, der sie auf seinem Wagen hat, muß
schnell fahren,' im Gutshofe wird sie mit Jubelgeschrei empfangen, und
alsbald stürzen sich alle Arbeiter aus sie, um sie zu vernichten. Tin
gleicher Dämon wie im Getreide herrscht auch im Gras, im Klee.
Mag man dem Glauben an diese dämonischen Gestalten auch
keinen tieferen, ethischen Hintergrund zuschreiben dürfen, so spricht er
doch für den Drang unseres Volkes nach Poesie, der sich in allen jenen
mythischen Gebilden offenbart. Sie sind nicht zum geringen Teile der
Jungbrunn des gemeinen Mannes gewesen, durch den sein oft kärgliches
Dasein erfrischt worden ist, und der ihm immer neuen Lebensmut ge¬
geben hat. Sucht man sie ihm zu nehmen, so unterbindet man ihm
die eigentliche Lebensader. Der Deutsche mit seinem tiefen Gemüt ver¬
langt nach solchen poetischen Gestalten,' mit ihnen zerstört man zugleich
sein individuelles Leben. Mögen diese Erscheinungen auch im Kerne