Full text: [Sechster Teil, [Schülerband]] (Sechster Teil, [Schülerband])

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Dämon des Niesengebirges, eine auch andernorts berühmte, volkstüm¬ 
liche Gestalt geworden, ein Geist, der die Guten belohnt und die Bösen 
bestraft, also gleichzeitig ein Erzeugnis deutschen Gerechtigkeitssinnes. 
Fluch in den Wäldern schalten und walten Dämonen. Weibliche Wesen 
sind es zumeist, Holzweibel, Waldsräulein, Moosleute, in Tirol Salige 
oder Saligfräulein, auch Fengen genannt. Ihren Leib denkt sich die 
Volksphantasie ihrer Heimat entsprechend: sie haben einen behaarten 
Körper, ein altes, runzeliges Gesicht und sind fast ganz in Moos ge¬ 
hüllt. In Gberdeutschland erscheinen sie mehr als Dämonen in über¬ 
menschlicher Gestalt, die dem Menschen zu schaden suchen, in Mittel¬ 
und Norddeutschland dagegen sind es mehr zwerghafte Wesen, die dem 
Menschen freundlich gesinnt sind und ihn bei seinen Arbeiten im Walde 
unterstützen. Ls ist eigentümlich, wie gerade auf diese mythischen 
Wesen die Natur der Gegend in den einzelnen deutschen Gauen ver¬ 
schieden eingewirkt hat: die mächtigen Berge des Südens mit ihren 
uralten Stämmen haben riesische Gebilde erzeugt, während in der Ebene 
und besonders in der Hügellandschaft dasselbe Wesen fast rein mensch¬ 
liche Formen angenommen hat. 
Den Waldfrauen ähnlich erscheinen auch die Korndämonen. 
Wenn der Wind das Getreide bewegt, daß es auf- und niederschwankt, 
dann treibt allerorten in Deutschland ein Dämon in ihm sein Wesen. 
Bald ist es ein Weib, das durch das Getreidefeld zieht, das Kornweib, 
die Kornmutter, NoggenmuLter, Noggenmuhme, auch Großmutter ge¬ 
nannt, bald ist es ein Tier, der Noggenwolf, die Noggensau, der 
Noggenhund, der haserbock, die Kornkatze. Der Geist wohnt im Ge¬ 
treide selbst. Wird dies geschnitten, so hüpft er von einem Halme zum 
andern, um den Schnittern zu entrinnen, bis er in dem letzten gefangen 
genommen wird. Dann ist sein Schicksal besiegelt' in einigen Gegenden 
wird er getötet, in anderen dagegen zunächst feierlichst mit der letzten 
Garbe heimgeführt. In letzterem Falle wird der Garbe die Gestalt einer 
Puppe gegeben,' der Fuhrmann, der sie auf seinem Wagen hat, muß 
schnell fahren,' im Gutshofe wird sie mit Jubelgeschrei empfangen, und 
alsbald stürzen sich alle Arbeiter aus sie, um sie zu vernichten. Tin 
gleicher Dämon wie im Getreide herrscht auch im Gras, im Klee. 
Mag man dem Glauben an diese dämonischen Gestalten auch 
keinen tieferen, ethischen Hintergrund zuschreiben dürfen, so spricht er 
doch für den Drang unseres Volkes nach Poesie, der sich in allen jenen 
mythischen Gebilden offenbart. Sie sind nicht zum geringen Teile der 
Jungbrunn des gemeinen Mannes gewesen, durch den sein oft kärgliches 
Dasein erfrischt worden ist, und der ihm immer neuen Lebensmut ge¬ 
geben hat. Sucht man sie ihm zu nehmen, so unterbindet man ihm 
die eigentliche Lebensader. Der Deutsche mit seinem tiefen Gemüt ver¬ 
langt nach solchen poetischen Gestalten,' mit ihnen zerstört man zugleich 
sein individuelles Leben. Mögen diese Erscheinungen auch im Kerne
	        
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