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183. Thüringen.
allenthalben unverkümmert an. Das Land ist gesegnet; der
Thüringer lebt aber auch danach. Bei den Gastereien der
thüringischen Bauern trifft man einen Aufwand und eine un¬
begrenzte Gastfreundschaft, die aber nur da geübt werden
können, wo die Natur ihnen eine breite Grundlage bietet und
keinerlei Sorge eingreift. Es kommt bei Hochzeiten, wenn
auch seltener als früher, noch vor, dass ein gemästeter Ochse,
sechs bis acht Kälber, ein Dutzend Schafe verzehrt werden;
dabei trifft man jene Munterkeit und innige Hingebung, wie
sie nur dem Süddeutschen eigen ist, überall in Thüringen,
selbst auch da, wo es keine goldenen Auen und keine getreide¬
funkelnden Thäler gibt. Auch der Wäldler ist heiter und
freudevoll, wie der reichste Bauer des Landes; ja er hat sich
gleich dem Älpler die Kunst verschafft: die thüringische Musik
ist bekannt, und man hört ihr es an, dass sie nicht die
Grillen verscheuchen, sondern mit der Freude zum Tanze auf¬
spielen soll.
Die höchsten Spitzen des Thüringerlandes sind der
Schneeberg und Beerberg, die bekannteste aber ist der
Inselsberg mit weiter Aussicht auf Thüringens Gaue. Um
die nächsten Vorberge des Inselsberges windet sich die
Hör sei, welche im Durchbruche zur Werra ein anmutiges
Thal bildet, in welchem die Stadt Eisenach liegt. Dicht
neben derselben erhebt sich auf waldiger Höhe die Wart¬
burg, einst der Sitz der mächtigen Landgrafen von Thüringen,
an deren Hof die Minnesänger so gerne weilten; wie denn
hier 1207 der bekannte Wettstreit, der Krieg auf der Wart¬
burg, der „Sängerkrieg“, gehalten wurde. In jüngster Zeit
hat man die zum Teil morsch gewordenen Gemäuer der
Wartburg erneut; im Stil des früheren Mittelalters bietet sie
mit ihren weiten Sälen, namentlieh dem Sängersaal, dem Be¬
sucher einen seltenen Genuss.
Die engen Thäler der Gera und lim sind reich an
malerischen Schönheiten; aber es fehlt dabei nicht an schauer-
lick-düsternTannengründen, namentlich im Thal der Schwarza,
wo die alte Schwarzburg auf steilem Felsenabhang thront.
Die Burg ist das Stammhaus der Fürsten von Rudolstadt und
Sondershausen und bewahrt noch eine Sammlung von Ritter¬
rüstungen und Waffen des Mittelalters.
Thüringen ist Sagenreich. Jedes Dorf, jede Höhle, jeder
Denkstein, mancher Baum sogar hat seine Sage. Die Sago
hat da dem Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser den geheimnis¬
vollen Palast erbaut; sie verherrlicht die hehren Gestalten
der alten Landgrafen, die fromme Landgräfin Elisabeth;
nicht minder weiss sie zu erzählen vom Sängerkrieg auf der
Wartburg und vom Hörselberg, in den die Heidengötter
gebannt sind.