Full text: Weimarisches Lesebuch

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134, Die Geschichte -es Nachtschmetterlings. 
„Tinmal habe ich auch wie andere Tiere gegessen und viel ge« 
gessen. Ich glaube, ich habe gar nichts anderes getan als immerfort 
gegessen. Aber das ist schon so lange her, daß ich es mir kaum 
noch denken kann. Ts war in meiner frühesten Aindheit. Damals 
war ich eine Larve und sah ganz anders aus als jetzt. Ich war ein 
kleiner, weicher lDurm, aber mit jedem Tag wurde ich größer und 
dicker. Ich kroch auf den Baumblättern herum und aß sie alle 
auf, so daß nichts als die Rippen davon zurückblieben. 
Nachdem ich eine Zeitlang so herumgekrochen war und nnch 
vollgegessen hatte, wurde ich eine jDuppe. Zwar hatte ich schon 
alle meine sechs Beine wie jetzt und meine vier Flügel und Augen 
und Fühlhörner, aber es klebte alles ganz fest an meinem Leib, 
und ich war mit einen: Firniß überzogen, so daß ich hart und glatt 
war und mich gar nicht rühren konnte. Ich aß nicht mehr und 
trank nicht, sondern baumelte an einem kleinen, dünnen Faden, der 
an einem Zweig hing. Das war eigentlich die behaglichste Zeit 
meines Lebens. Ich hatte keine Sorgen und keine pflichten, hing 
nur da in meinem j)uppenfutteral und träumte. 
Aber eines Abends sprang die brülle, und ich merkte, ich konnte 
meine Beine und meine Flügel ausstrecken. Nachdem ich eine 
lDeile ruhig dagesessen und ganz zu mir gekommen war, siog ich 
in die Nacht hinein, und eine herrliche, stille Nacht war es. 
Alle Vögel schliefen rund herum in den Büschen; es war niemand 
da, der nur ein Leid getan hätte, und selbst wenn es jemand ge¬ 
wollt, so hätte er nnch doch nicht sehen können, denn ich bin so 
dunkel wie die Dunkelheit, in der ich fliege. Sobald die Sonne 
aufgeht, verstecke ich mich hier unter dem Huflattichblatt und bleibe 
den ganzen Tag ruhig da sitzen. Trst wenn die Sonne nicht mehr 
am Fimmel ist, und die Abendglocke ihren Untergang verkündet 
hat, und die Nebel von: Moor aufsteigen — dann fliege ich wieder 
fort. Aber ich gehe nicht wie andere auf Raub aus. Ich kümmere 
mich nicht mehr um Speise. Ich habe kaun: einen Mund 
und Magen, um etwas hineinzustecken. Die ganze Nacht fliege 
ich herum und suche gute Plätze, wo ich meine Tier hinlegen 
kann. Ich habe während der kurzen Sonnnerszeit zu irgend etwas 
anderen: durchaus keine Zeit. 
Da habt ihr meine Geschichte^ und wenn sie nicht vom Tssen 
handelt, kann ich wirklich nichts dafür." Rar! Ewald.
	        
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