Full text: Weimarisches Lesebuch

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„Seid doch gescheit!“ sagte Mutter Sonne. „Wie geht 
denn das! Ihr würdet ja doch gleich alles wieder auftrocknen, 
was der Regen naß gemacht hat, und dann würde der Regen 
ja gar nichts nützen.“ 
Das sahen die Sonnenstrahlen nun freilich ein. Aber zu¬ 
frieden gaben sie sich doch nicht damit. Sie dachten es sich 
doch zu schön, einmal mit den Regentropfen zusammen auf 
die Erde hinunter zu können. 
Sie kannten sich ja überhaupt noch nicht einmal ordentlich, 
die Regentropfen und die Sonnenstrahlen. Auf der Erde 
durften sie nicht zusammen sein, und oben am Himmel, da 
waren die kleinen Regentropfen ja immer in den dicken Wolken 
eingeschlossen. 
3. Wahrhaftig — viele von den Sonnenstrahlen wußten 
überhaupt gar nicht, wie die Regentropfen aussahen. 
„Haben sie auch so schöne, goldne Kleider an wie wir?“ 
fragten sie. 
„I bewahre, — sie haben überhaupt keine Kleider an, 
weder goldne, noch grüne, noch rote. Sie haben überhaupt 
keine Farbe — es sind eben nur Wassertropfen.“ 
Die Sonnenstrahlen, die das sagten, hatten einmal kurz, 
nachdem es geregnet hatte, auf die Erde geschienen, und da 
hatten sie noch ein paar Tropfen von den Bäumen fallen 
sehen. 
„Keine Farbe? Wie langweilig!“ meinten die anderen. 
„Wassertropfen — dann sehen sie wohl so ähnlich aus wie 
Tautropfen?“ 
„Ja, ja — wie Tautropfen, ganz richtig.“ 
„Oh, oh!“ rief da ein schöner, goldener Sonnenstrahl —- 
„Tautropfen, die kenn' ich! Aber die sind nicht immer ohne 
Farbe. Gestern morgen, als ich auf die Wiese schien, da 
hing fast an jedem Grashalm ein solches Tautröpfchen. Die 
blinkten so hell, und das gefiel mir so gut, — und da ging 
ich zu jedem einzelnen hin und betrachtete es mir. Und 
denkt euch! als mein goldenes Strahlenkleid die Tröpfchen 
berührte, da schillerten sie auf einmal in den schönsten Farben: 
rot, orange, gelb-grün-blau-lila — es war ganz herrlich, sag’ 
ich euch.“ 
4. Da waren die Sonnenstrahlen alle sehr erstaunt. Und 
einer von ihnen, ein ganz besonders kluger, der rief: „Ei,
	        
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